In Kollektiven
Noch saß Glauby vorm Monitor. Er versuchte zögernd, die Finger von der Tastatur zu nehmen, den Blick abzuwenden.
Jene Kraft war stärker.
Noch bis zur gerade vergangenen Minute, dieser sinnlos für seinesgleichen erfundenen Zeiteinheit, hatte er geschrieben. Bewerbungen für eine neue Tätigkeit, Beschreibungen seiner bisherigen Einsatzorte und der eigenen Fähigkeiten.
Er wusste, er erfand eine Gestalt, die er nicht war. Er war doch nur die Kraft der Ideen der Anderen. Es trieb ihn von Kollektiv zu Kollektiv. Er ahnte, dass man ihn vermissen würde, bald nachdem er weg wäre. Wenn die Erfolge nachließen. Solange er irgendwo dabei war, gehörte er eben nur zum Kollektiv. Im günstigen Fall als Stichwortgeber, im ungünstigen nahm man ihn gar nicht wahr. Die Ergebnisse brachten die Anderen. Auf den Auszeichnungen standen deren Namen. Nein, der Name der Kollektive. Zu denen hatte er gehört. Manchmal musste er nicht einmal etwas sagen. Es reichte, ihn anzusehen. Plötzlich war klar, Holzweg oder Himmelsleiter.
Es klang beeindruckend, woran er schon alles beteiligt gewesen war.
Ihm wäre niemand eingefallen, der ihn nicht gemocht hätte. Wenn ein Kollektiv für seine kreativen Erfolge ausgezeichnet worden war, hatte der Rat auch ihm gratuliert, also auch ihm die Hände gedrückt. Die Kollegen gratulierten ihm sogar besonders herzlich. Mit diesem Händedruck beglückwünschten sie sich selbst am überzeugendsten.
Wann endlich wäre er er? Also einer mit Namen. Einer, der selbst etwas geschaffen hatte. Nicht nur einer, der dazu gehört hatte, wenn etwas geschaffen worden war?
Mathematisch gesehen gab es ihn nicht. Mathematisch gesehen war er ein Summand Null, der keine Summe veränderte. Vielleicht ein unsichtbarer Faktor? Eine Kommastelle nach der Eins?
Er wusste es nicht.
Er passte doch so gut in diese Zeit, in der es nicht darauf ankam, immer mehr und mehr und mehr zu erreichen. Seine Personalakte war ungewöhnlich dick. Man traute ihm als Neuem nichts zu, aber man konnte es erst einmal mit ihm probieren. Am Ende jeder Probezeit wurden die Kollegen befragt, wie der Neue so gewesen sei, ob sie ihn behalten wollten? … Ach der? Meinetwegen ja …
Hätte jemand es verfolgt, hätte er festgestellt, dass es mit allen Kollektiven, denen er gerade angehörte, aufwärts ging (und nur am Rande: wenn er nicht mehr dazugehörte, ging es wieder abwärts), aber wer verfolgte das schon.
Irgendwann begann es ihn zu ärgern.
Irgendwann suchte er immer schneller eine neue Aufgabe für sich. Er ahnte, dass er immer dieselbe Aufgabe löste, die anderen um ihn herum ein Stück besser zu machen. Aber allmählich wünschte er, irgendwer täte dasselbe mit ihm.
So saß er wieder einmal hier und schrieb.
Sein Blick war wieder einmal auf den Laptop gerichtet. Er begann auf ihn einzureden: „Na, du Dummer?! Sind wir nicht irgendwie wie Zwillinge? Du bist doch auch so ein Typ, durch den andere besser oder schlechter werden. Wie sieht´s aus, nimmst du mich in deine Schaltkreise auf?“
Als er das aus seinem eigenen Munde hörte, stieß er zunächst noch ein gekünsteltes Gelächter aus. Doch der Gedanke ließ ihn nicht los …
„Wenn man dich hier findet, wird man dich wahrscheinlich verschrotten. Im besten Fall fände ein Bastler Verwendung für irgendein Einzelteil. Du Ärmster, da haben es die Computer im Institut besser.“
Fast zärtlich strich er mit der Hand über den oberen Rand des Monitors. Sorgfältig fuhr er seinen Laptop herunter.
Er verließ die Wohnung, das Haus, betrat sein Institut – hatte er eigentlich das Recht, von SEINEM Institut zu reden, wo er doch schon wieder auf der Suche nach einem neuen Kollektiv gewesen war? - grüßte die Kollegen der Nachtschicht. Niemand wunderte sich, dass er zu seinem Arbeitsplatz unterwegs war – es hätte sich auch niemand gewundert, wäre er nicht zu seinem Arbeitsplatz unterwegs gewesen – und dass von da an Licht brannte in seinen Zimmer.
Als am nächsten Tag die ersten Kollegen auftauchten, schalteten sie die künstliche Beleuchtung ab. Stimmen gingen hin und her.
„Na? Sind eure Gewitterwolken abgezogen?“ Jane zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. Maggy gab ein schnaubendes Geräusch von sich. „Hör bloß auf! Ich versteh es ja selbst nicht, warum ich immer noch bei dem Typen bleibe. Aber manchmal, da steht er mit seinen Hundeaugen an der Tür und ich kann nicht anders und lass ihn rein.“ „Sag´s doch ruhig: An der Schlafzimmertür steht er … Wuff!“ Jane lachte. Es war halt schwer, den Richtigen zu finden. „Soll ich dir eine Tasse Kaffee aus der Küche mitbringen?“ „Gerne!“
Der übliche Montagmorgen-Smalltalk eben.
Niemand wunderte sich sonderlich, dass Glauby nicht mehr da war.
Niemand wunderte sich darüber, dass das Kollektiv in den folgenden Jahren immer zu den erfolgreichsten des ganzen Planeten gehörte. Sie waren ja alles Spitzenkräfte in Wissenschaft und Technik, die hier zusammen arbeiteten.
Die Spitzenergebnisse endeten übrigens abrupt, als das Rechnersystem des Instituts durch ein neues, zehnmal so schnelles ersetzt wurde. Aber auch darüber wunderte sich niemand. Auch andere Kollektive waren eben gut ...