Die Westzonen hatten sich im Frühjahr zur Bundesrepublik Deutschland zusammengeschlossen. Jo las die Zeitungsüberschriften in der „Täglichen Rundschau". Im Osten wurde protestiert: Kein Separatstaat! Deutschland muss eins bleiben! Der Westen blieb hart, es war nicht mehr rückgängig zu machen. Was blieb dem Osten übrig? Am 7. Oktober 1949 wurde als Antwort in der Sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Im Westen wurde sie nur „die Zone" genannt.
Es war ein paar Tage vor Weihnachten. Es war schon dunkel, Jo kam aus der Schule, vom Nachmittagsunterricht. Bereits von weitem sah sie den Pferdewagen vor der Haustür stehen. Sie brachte ihn nicht mit ihrer Familie in Zusammenhang, sondern glaubte, er habe mit Onkel Kluge und seiner Schmiede auf dem Hinterhof zu tun.
Als sie vor der offenen Wohnungstür stand, begriff sie: Die Familie Borkmann zog um. Nichts hatte sie vorgewarnt: nicht, dass der Hauswirt ein paarmal beim Vater war, nicht, dass Großmutter argwöhnisch fragte, ob sie genug zu essen hätten, nicht, dass sie Jo jetzt öfter Lebensmittel für die Mutter mitgab.
Onkel Fred war da und seine Frau, Tante Lilian. Sie und die Mutter und der Vater - alle packten irgendwas ein, in der Stube, in der Küche. Jo stand sprachlos dabei. Großmutter kam die Treppe herauf. „Jo, komm solange zu mir. Du stehst hier bloß im Wege herum."
„Was ist denn los? Warum ziehen wir um?"
„Ich weiß es nicht. Aber ich ahne es." Großmutter machte ein bekümmertes Gesicht.
„Dann sag es mir, Oma."
„Kind, alles kostet, es gibt nichts umsonst im Laden. Ihr seid fünf Menschen, und nur das Gehalt deines Vater, noch dazu halb West, halb Ost - das konnte ja nicht gutgehen. Dein Vater hat ein paar Monate die Miete nicht bezahlt. Und Opa, der Brabbelkopp, wollte deinem Vater auch kein Geld geben. Der Stalinknecht Borkmann soll mal sehen, wo er bleibt, hat er gesagt. Da hat euch der Hauswirt auf die Straße gesetzt. Ihr seid exmittiert worden."
„Exmittiert – was heißt das?"
„Ich weiß nicht, wohin dein Vater mit euch umzieht. Der Bescheid lag heute früh im Briefkasten, deine Mutter hat es mir gesagt. Exmittieren heißt, es gibt kein Pardon für euch. Ihr müsst ausziehen, egal, wohin. So unmenschlich sind die Gesetze nun mal. Kein Geld – keine Wohnung. Wo doch der Jürgen noch so klein ist." Großmutter wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.
Jürgen, das war das neue Baby. Er konnte schon im Bett stehen und ein paar Wörter lallen, und er war nicht mehr so hässlich wie nach der Geburt. Jo konnte stundenlang mit dem kleinen Bruder spielen, es machte ihr nichts aus, wenn er ihr mit seinen Fäustchen ins Gesicht fuhr oder sie besabberte.
„Wenn dein Vater keine Wohnung gefunden hat, dann heißt es Notunterkunft, irgendwo ein, zwei primitive Zimmer."
Jo verstand. Weil die Borkmanns zuwenig Geld hatten, darum hatten sie jetzt auch keine Wohnung mehr. Nur wer Geld hatte, war dem Hauswirt angenehm. Es gab kein Recht darauf, wohnen zu bleiben, wenn man seine Miete nicht bezahlen konnte.
„Ooch, so schlimm ist es auch nicht", sagte sie. „Unsere Wohnung ist sowieso zu eng. Meine Schularbeiten habe ich auf dem Kohlenkasten gemacht."
„Aber wer weiß, wie es jetzt wird." Großmutter umarmte die Enkelin. „Egal, wohin ihr zieht, du meldest dich in jedem Fall bei mir. Dein Vater wird es mir nicht sagen. Versprichst du mir das, Jo?"
„Mach ich, Oma. Aber was wird jetzt mit der Schule? Ich habe mich von niemandem verabschiedet."
„Das holst du nach, Kind. Ihr habt jetzt andere Sorgen."
Es war fast Mitternacht, als die Mutter klingelte. „Es geht los, Jo. Gib Oma einen Kuss."
„Und wohin zieht ihr, Rita?"
„Helmut will mich überraschen. Er hat heute in aller Schnelle eine Wohnung aufgetrieben. Zwei Zimmer, mit Bad und Balkon, sagt er. Ach, Mutter!" Und Mutter und Tochter lagen sich in den Armen.
Jo stand dabei, und sie wusste, etwas ging an diesem Abend zu Ende, etwas, was nie wiederkommen würde. Sie wusste nicht, was es war, aber sie spürte, dass etwas Neues beginnen würde. Halb hatte sie Angst, halb freute sie sich.
Das Pferdefuhrwerk war jetzt hochbepackt. Alle Möbel der Borkmanns hatten Platz auf dem Wagen gefunden: der Kleiderschrank, die Betten, der Tisch, die Stühle, der Küchentisch, der Kohlenkasten, zwei Küchenstühle. Ganz oben lag auf dem Rücken der Küchenschrank.
„Rauf mit dir!" Der Vater hob Jo hoch, auf den Küchenschrank. „Halt Veronika fest."
Veronika schmiegte sich an Jo, sie schlief.
Der Vater kutschierte. „Hü, Brauner!" Das Pferdchen zog an. Die Mutter saß auf dem Kutschbock, neben dem Vater, den kleinen Jürgen im Arm.
Sie fuhren durch das nächtliche Berlin, das ausgebombte Berlin, an leuchtenden Schaufenstern vorbei und durch dunkle, nur schwach beleuchtete Straßen. Die Straßen wurden immer dunkler, auch hinter den Fenstern war es dunkel. Es war kalt, schon Dezember, Jo zitterte und drückte Veronika an sich.
„Wo sind wir hier, Pappi?"
„Prenzlauer Berg."
Nach Stunden: „Und jetzt, wo sind wir jetzt?"
„Treptow."
Jo wusste nicht, dass es solche Orte wie Prenzlauer Berg und Treptow überhaupt gab.
Sie sah kaum Ruinen.
„Als ob es hier keinen Krieg gegeben hätte", sagte sie.
„Du wirst Augen machen, wenn wir da sind. Dort gibt es überhaupt keine Ruinen."
„Und wo – ist dieses Da?"
„Wird nicht verraten."
Jo war müde, sie schlief ein. Sie erwachte von einem Ruck. Das Pferd wieherte.
„Alles aussteigen. Endstation!"
Jo kletterte vom Küchenschrank herunter. Es war ein kleiner Hauseingang, nur für Menschen, kein breiter und hoher für Pferdefuhrwerke wie in der Kellerstraße. Onkel Fred und Tante Lilian traten aus der Tür.
„Als erstes die Betten!" Die Mutter war aufgeregt. „Die Kinder sind müde. Ich hatte schon Angst, Jo fällt vom Küchenschrank."
Jo stieg die fremde Treppe hoch. Drei Wohnungstüren in jedem Stock, hellgrüne Türen.
Im ersten Stock stand eine Wohnungstür offen. Hier also, hier würden die Borkmanns ab heute wohnen.
Jo trat ein. Ein breiter Flur. Und lang war der Flur. Hier konnte man sogar schaukeln!
Sie trat in ein Zimmer. Es war nicht allzugroß, aber auch nicht so klein wie die Stube in der Kellerstraße, ein breites Doppelfenster, ein brauner Ofen. Das andere Zimmer war noch größer. Die Küche. Jo hatte noch nie eine so breite Balkontür gesehen. Sie riss die Tür auf, sie trat auf den Balkon. Ein paar Büsche, es war der Hof, auf den sie blickte. Baumwipfel hoben sich im Mondschein von der Dunkelheit ab. Das war kein Hof, das war ein Wald!
Onkel Fred und der Vater schleppten den Küchenschrank. „Hierher, Fred, an die Wand. Den Tisch dann in die Mitte. Und Jo, steh nicht rum. Ins Bett mit dir!"
„Ich kann heute nicht schlafen. Es ist zu schön hier."
„Morgen ist es auch noch schön. Keine Widerrede!"
Jo musste unbedingt noch das Bad sehen. Ein Bad! In der Wohnung! Sie hatte gar nicht gewusst, dass es so etwas gab. Das Bad war nicht allzugroß. Eine Wanne, ein Badeofen, ein Klo, ein schmaleres Fenster, wenig Platz sonst. Der Fußboden war aus schwarzweißem Gestein.
Ihr Bett stand im kleineren Zimmer. Veronika schlief jetzt in Jos altem Kinderbett. Jürgen lag, den Daumen im Mund, in dem neuen Kinderbett. Sonst war das Zimmer leer. Jo sank ins Bett, im Nu war sie eingeschlafen.
*
Die Borkmann-Kinder schliefen lange, bis in den Mittag hinein. Sogar Jürgen rührte sich nicht. Am Küchentisch saßen sie dann alle versammelt. Die Mutter hatte gekocht: ein Festtagsmahl, Buletten mit Rotkohl.
„Ab heute", sagte sie, „gibt es Küchendienst. Morgen bist du dran, Jo."
„Aber ich kann doch gar nicht kochen!"
„Ich bring es dir bei."
Der Vater lachte. „Dann wird Jo uns Schuhsohlen servieren! Wird schon schiefgehen!"
Die Mutter wurde ernst. „So, mein Gatte und Geheimniskrämer, hättest du jetzt die Güte, uns endlich zu verraten, wo wir uns hier befinden?"
Der Vater nahm einen Bissen in den Mund. Er nuschelte. Jo verstand nicht.
„Wo? Ich höre wohl nicht richtig!" Die Mutter stemmte die Arme in die Seiten.
„Du hörst richtig, Weib: in Köpenick. Im tiefsten Berliner Osten. Mitten in Sibirien. Was dagegen?"
Die Sonne schien in die Küche. Jo blinzelte, der Sonnenschein lag auf ihrem Gesicht.
„Nichts dagegen!", sagte sie. „Ganz und gar nicht!"
Der Vater lachte schallend, dann lachte die Mutter. Veronika, die nicht begriff, warum die anderen lachten, lachte mit.
„Jo wird es uns sagen: Ab heute wohnen wir nicht mehr in Westberlin, sondern wo – Jo?"
„Im Russensektor, in diesem anderen Berlin, in der Zo ... - in der DDR?"
Wieder lachte der Vater. „Hat eben alles sein Gutes", sagte er. „Einverstanden, Jo?"
„Einverstanden, Pappi!"
Alle Zimmertüren standen offen. Auf der Hauptstraße fuhr eine Straßenbahn vorbei. Stimmen von Menschen, Lachen. Und morgen ging die Schule los, die neue Schule.