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germanist 

 

marbach Germanistik im Netz - Virtuelle Fachbibliothek Germanistik  

Gegen deutsche Kriege

29. Juli 2008 2 29 /07 /Juli /2008 05:10
 

Sam und Samantha bemerkten in ihrem erwartungsvollen Glück die Angst in Abeas Augen nicht.

Auf das Schwesterchen freute sie sich. Die Mum war ganz anders, wenn sie, Abea, an ihrem Bauch horchen wollte, was denn das Kleine darin so empfinde. Stundenlang hörte Samantha dem Mädchen zu, wenn es so lustig die angeblich gerade erlauschten Gedanken des künftigen Schwesterchens nacherzählte.

Nein. Das war es nicht.

Aber die Klasse hatte sich verändert.

Abea war Hobbes lange aus dem Weg gegangen. Das, was sie an Gedanken aus seinem Kopf hörte, quälte sie. Was konnte sie denn dafür, dass sein Vater von dort unten die tödliche Krankheit, ihr Dad dagegen sie mitgebracht hatte?

Dann merkte sie, dass sie immer mehr Mitschüler mieden. Wie eine Fahne zog sie den Titel „Schwarze Hexe“ hinter sich her. In ihrer Gegenwart sprach ihn niemand aus, aber das war vielleicht noch schlimmer: Es aus den zurückgebliebenen Gedanken der anderen lesen zu müssen, wie sie in ihrer Abwesenheit über sie hergezogen waren.

Hobbes war größer, älter und kräftiger als die anderen. Auf dem Heimweg von der Chorstunde, die jetzt auch keine richtige Freude für Abea mehr war, stand er plötzlich mit fünf anderen Jungs vor ihr. „Na, Cleopatra, bist du eigentlich beschnitten? Ihr Araberweiber sollt ja so scharf sein, dass ihr es anders nicht aushalten könnt. Na, ich beschneide dich gern. Wo auch immer.“

Sie hörte die anderen denken, lass den Quatsch, was soll das! Aber keiner sagte etwas. Sie konnte sich losreißen, rannte, rannte, rannte.

Zu Hause redete gerade die Mutter von Samantha auf Abeas Pflegeeltern ein, ohne das Kind in der Tür zu bemerken: „... Wir haben dreißig Rollen bekommen. Wir dachten, am Wochenende tapezieren wir zusammen. Rosa Wölkchen. Sind die nicht niedlich?“

Wortlos verzog sich Abea auf ihr Zimmer.

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28. Juli 2008 1 28 /07 /Juli /2008 05:07
  Längst wusste ich nicht mehr, wer ich und wer Sam war, und wer … Nein, natürlich wusste ich um Abea. Aber in meinem Gehirn verschwamm Sams Erzählung mit Bildern, die sie heraufbeschworen, zu einem neuen Film. Anfangs hatte ich mich noch gefragt, wieso er von Erlebnissen Abeas erzählen konnte, bei denen er nicht dabei gewesen war. Irgendwann bildete ich mir aber selbst ein, manche Szene mit den Augen jenes Mädchens zu erleben. Da wusste ich schon nicht mehr, ob ich nicht selbst die Geschichte neu erzählte. Ich fertigte keine Protokolle mehr an, ich beschwor genau wie Sam das Mädchen Abea als Geist herauf, und sie erschien mir, weil ich – wie Sam – nicht sein wollte, wie ich in Wirklichkeit war.  

Aus der kleinen Schule von Louisville hatten sieben Jungen ihr geregeltes Einkommen in der Armee gefunden. Sie alle überstanden das Abenteuer Krieg lebend. Doch nur wenige Wochen, nachdem sie wieder im heimatlichen Stützpunkt zurück waren, sahen die Jungs fast täglich ausgemergelter aus. Mit Beginn von Abeas nächstem Schuljahr war von allen nur noch Sam am Leben. Im Drugstore hatte Samantha den Eindruck, als brächen alle Gespräche ab, kaum, dass sie zur Tür herein kam.

Sam, ich habe den Eindruck, die warten richtig darauf, dass du endlich stirbst.“

Aber Samantha! Glaub mir, da können sie lange warten.“

Trotzdem karrte er seine Familie zu Burklands Spezialklinik.

Der Chefarzt begrüßte sie zum Auswertungsgespräch mit einem entspannten Lächeln.

Sie sind so gesund wie eh und je. Und was ihre Abea angeht: Es hat sich nichts verändert. Alle Werte wie damals. Was soll ich sagen? Die Katastrophe kann unmittelbar vor der Tür stehen, aber inzwischen hätte ich genau wie Sie Hoffnungen auf ein glückliches Ende.“

Sie wollten schon aufstehen, da lächelte der alte Arzt richtig spitzbübisch.

Ach ja, Mister Mc Fadden, apropos Hoffnungen. Ihre Frau meinte, aus meinem Mund glauben Sie es am ehesten: Rechnen Sie mit dem ersten eigenen gemeinsamen Nachwuchs. Für Sie wird scheinbar alles Unmögliche möglich.“

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27. Juli 2008 7 27 /07 /Juli /2008 05:05
 

Es war schon ein seltsames Gefühl. Zur Schule gehen. Mit Kindern, die hier groß geworden waren, alle Wörter kannten, die fremden Dinge, die sie bezeichnen sollten, ja, die sogar genauso aßen wie ihre Nachbarn.

Sag, ich heiße Abea!“

Das hatte ihr Sam erklärt, den sie jetzt Dad nennen sollte. So tat sie es auch, als sie allein mit der Lehrerin vor der Klasse stand. Trotzdem lachten die meisten. Vielleicht hatte sie die Laute nicht richtig betont.

Mrs. Widerman winkte. Daran erkannte Abea, dass vorn dort war, wo die anderen Kinder hinsahen, wenn sie sich nicht gerade feixend wie jetzt zu ihr umdrehten.

Mrs. Widerman fragte so boshaft, als wäre völlig klar, dass Abea nicht wissen konnte, wie viel zwei plus drei sei. Aber sie dachte dabei fünf, so dass Abea laut „Fünf!“ sagte, und auch, als die Aufgaben schwieriger wurden, dachte die Lehrerin immer an die Lösung, die Abea nur laut nachsagen brauchte.

Viel hatte Abea nicht verstanden, aber weil alle ihre Antworten richtig gewesen waren, galt sie von nun an als Rechenass. Rechnen war auch leichter als die fremde Sprache, von der man so viele Worte mit so vielen Bedeutungen behalten musste, und David, der immer am lautesten dachte, formulierte so viele falsche Sätze.

Abea lernte schnell.

Trotzdem war sie traurig. Mathew hatte immer solche Angst vor dem Unterrichtsschluss. Sie fragte ihn, warum er nicht mit den anderen loslaufe.

Lass mich in Ruhe“, antwortete er abweisend. Aber da kamen schon Hobbes und dessen Gang und schlugen auf den kleinen schwarzen Jungen ein. Überrascht und hilflos stand Abea daneben.

In der nächsten Pause jedoch stellte sie sich vor Hobbes hin.

Warum lässt du Mathew nicht in Ruhe?“

Die anderen aus der Klasse bildeten einen Kreis um sie. Hobbes grinste. Sein Gedanke kam genauso schnell oder langsam wie seine Worte: „Weils einfach Spaß macht. Aber wir können ja auch dich nehmen.“

Fast alle lachten.

Nur Benny stand in der Ecke und dachte, Mädchen schlägt man nicht. Er fürchtete sich, das laut zu sagen. So war Abea am Schluss der letzten Stunde auf ihn zugegangen, hatte ihn an der Hand genommen und war mit ihm schweigend durch die Gasse der verwirrten restlichen Jungen geschritten.

Schwarze Hexe!“, rief Hobbes. Aber Abea hätte nicht sagen können, ob das abschätzig oder zumindest etwas anerkennend gemeint war.

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26. Juli 2008 6 26 /07 /Juli /2008 05:02
  Sie war über eine Schwelle getreten.

Hinter ihr war nichts, jedenfalls nichts, woran sie sich hätte erinnern können. In diesem Moment wusste sie nicht mehr, was sie jemals erlebt hatte, vor allem nicht, was gerade passiert war. Nur, dass sie sich nicht bewegen konnte. Um sie herum stank es fürchterlich und niemand war da, bei dem sie das hätte beklagen können.

Plötzlich stand ES vor ihr. ES war sehr groß, glänzte weiß, hatte keine Haare, keinen richtigen Mund, aber riesige ovale Augen. Beine auch, aber die bemerkte sie erst später. Sie bestaunte die fremden Riesenaugen.

Du wirst mir nichts tun. Ich habe dich lieb. Ich habe überhaupt keine Angst vor dir. Ich habe dich lieb.

Abea wunderte sich. Deutlich verstand sie, dass ES an eine Samantha dachte. Die hatte traurige blaue Augen und locker auf die Schulter fallende Haare von der Farbe der Wüste bei Windstille. ES dachte Gnadenschuss und Abea hätte zu gern gewusst, was das bedeutete. ES wollte wissen, wer sie war. Und Abea nahm die Worte von IHM und ergänzte ihren Namen.

Abea zögerte. Sie wollte zurückfragen, aber ES würde sie ja nicht verstehen. Da riss ES sie nach oben, und Abea sah vor sich einen schwarzen Himmel.

Ich kann Ihnen das nicht erklären. Glauben Sie mir. Ich würde gern, aber ich kann es mir selbst nicht erklären. Die meisten Zellen ihrer Abea sind radioaktiv aufgeladen. Aber sie strahlen nicht nach außen. Und das Seltsamste: Ich kann bisher keinerlei krankhafte Veränderungen feststellen.“

Bitte, Herr Doktor, reden Sie Klartext! Wie lange hat sie noch zu leben?“

Das kann ich einfach nicht sagen. Der Strahlenbelastung nach wäre sie längst tot, von der Wahrscheinlichkeit her muss die Strahlenkrankheit bald bei ihr ausbrechen. Spätestens dann bleibt Ihnen nichts mehr zu tun, als der Kleinen die Leiden zu mildern.“

Sie finden unsere Idee also verrückt?“

Der alte, bedächtig sprechende Chefarzt der Spezialklinik vermied es, Samantha und Samuel Mc Fadden in die Augen zu sehen.

Bitte fragen Sie mich nicht! Ich an Ihrer Stelle würde mir das alles noch einmal gründlich überlegen.“

In diesem Augenblick ging die Tür auf. Für einen winzigen Moment stand Abea abwartend da, die Klinke in der Hand, die dunklen Augen funkelten Sam an. Dann flog sie ihm entgegen, als hätte sie einen kräftigen Tritt bekommen. Sie landete auf seinem Schoß, und ihre Arme zogen Samanthas Kopf zu sich heran, drückten ihn und krabbelten mit den Fingern durch die blonden Haare, als suchten sie darin wenn schon nicht Läuse so doch wenigstens Wüstensandkörner.

So lange es geht, lebt Abea als unser Kind“, entschied Sam, wobei er abwechselnd zu Abea und dem Arzt blickte.

Und das Kind warf dem Mann in dem Kittel einen trotzigen Blick zu. „So lange es geht, lebt Abea als unser Kind“, wiederholte es störrisch.

Auf der Straße in die Kleinstadt, dort, wo man mehr als fünf Achtel des Himmels über sich sah, schwieg Sam vor sich hin. Seine freie Hand lag in der linken Samanthas.

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25. Juli 2008 5 25 /07 /Juli /2008 05:00
  Abea (Slov ant Gali)

Möchte ich in fremden Gehirnen lesen können, vor allem jetzt in seinem – wo ich sowieso schon zu viel weiß? Für meinen Beruf wäre es von Vorteil. In diesem Fall aber …. Nein, wahrscheinlich möchte ich es nicht.

Ich leite den Mann zu dem Platz, an den er sich in den Sitzungen gewöhnt hat. Ich ahne, was wirklich war, aber sträube mich, wie er, gegen die Wahrheit.

 

Er hatte sich freiwillig gemeldet. Sondereinsatz, Sonderprämie. Sie übertrugen die Erfahrungen ihrer langjährigen überlegenen Demokratie auf das Land dieses Diktators. Klar, wurde auf sie geschossen, mussten sie für Ordnung sorgen, Waffen einsetzen, die mit Splittern und mit Strahlen alle potentiellen Mörder und Terroristen für immer handlungsunfähig machten. Dann entstanden schon einmal Berge von Menschenteilen, die sie nicht liegen lassen konnten. Schließlich waren sie hier, um Ordnung zu bringen. Und er war dran, im Schutzanzug die Terroristen zu einem Haufen zusammenzukarren, damit sie umweltverträglich entsorgt würden.

Da entdeckte er sie.

Es war eigentlich unmöglich. Die eingesetzten Befriedungsmittel durften kein Zucken zurücklassen. Doch ihre Augen sahen ihn an. Sie waren groß und wunderschön. Dunkel wie die feuchte, fruchtbare Krume seiner Heimat, frisch durchgegrubbert nach der Schneeschmelze im März. Sie schienen zu sagen, ich habe dich lieb, du Gespenst. Ich will dich retten. Hatte er das gelesen? Von diesem Gespenst von Canterbury? War er das Gespenst, das gerettet werden musste?

Er achtete nicht auf die anderen ringsum. Sah nur dieses Mädchen. Zog es aus dem Körperberg hervor. Es war verschwitzt. Eine kleine Schramme an der linken Schläfe wurde vom sandigen schwarzen Kraushaar halb verdeckt, ansonsten aber schien es unverletzt. Das Kleid oder wie man dieses Kleidungsstück nennen mochte, Burnus oder so, war gleichfalls an der linken Schulter zerrissen, so weit, dass es eine bubenhafte Brustwarze hervorschauen ließ. Das Mädchen hatte nicht die Kraft, die Blöße zu bedecken. Leben war nur noch in seinen Augen.

Für einen Moment wollte er das Kind zu dem restlichen Haufen stoßen. So verstrahlt, wie es war, würde es sowieso bald sterben. Ein Gnadenschuss würde es vor Qualen bewahren. Aber da war immer noch dieser Blick, diese Augen.

Was für ein Unsinn! Was dachte er ausgerechnet jetzt an Samantha, die so gern ein Kind gehabt hätte? Ein unbegreiflicher Reflex bewegte seinen Mund: „Wie heißt du, Mädchen?“

Er dachte sofort: Sam, bist du blöd! Sie kann dich nicht verstehen. Du müsstest durch deinen Anzug viel lauter sprechen. Und selbst dann – wie sollte dieses Mädchen deine Sprache verstehen?

Da hörte er Laute aus ihrem Mund: „Heißt du Mädchen Abea.“

Der Sergeant Samuel Mc Fadden packte das Kind an den Armen, schleppte es von dem Körperentsorgungshaufen fort zu seiner Batterie, und er drehte sich auch nicht um, als hinter ihm die Flammen mit einem dumpfen Puffen anfingen, den anderen Körpern Gnade zu erweisen.

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23. Juli 2008 3 23 /07 /Juli /2008 04:32
 

Ich staunte: Gerade sprach er den Namen zum ersten Mal richtig aus. Es half nichts. Kolumbus blieb verschollen. Vielleicht ließ er sich gerade füttern von einer Nachbarsoma, die ihren „Puttilies“ Körner auf die Wiese streute und den plötzlichen Zuwachs nicht merkte? Vielleicht würde unser Kolumbus zum ersten Huhn auf dem Weg zurück in die wilde Natur? Hühner musste es ja einst in der Wildnis gegeben haben, bevor der Mensch sie sich untertan gemacht hatte. Ich schlief verdammt gut ein mit diesem Gedanken.

Im Halbschlaf hörte ich Timmi seinen Kaninchenteddy anbetteln: „Du bist nicht so ein Kolumbus, nicht? Du bleibst bei mir ... Komm kuscheln!“

Damit hätte die Geschichte zu Ende sein sollen.

Aber die Wirklichkeit brachte den nächsten Schultag, meinen Kontrollgang bei den fünf Resthühnern, den Rückweg am Stall vorbei und aus dem Stall heraus ein gequältes: „Pühiep!“

Kolumbus hockte im Halbdunkel, machte erneut „Pühiep!“ und sah aus, als wollte er ein Ei ausbrüten. Wahrscheinlich wusste er um seinen bevorstehenden Tod. Unser Entdeckerhuhn machte sich steif, als ich ihm über den Rücken strich.

Plötzlich überhaupt nicht mehr hungrig schloss ich die Stalltür wieder und betrachtete die restlichen fünf Gackertiere. Die hackten ungerührt auf Löwenzahngrün und gekochten Kartoffeln herum. Was sollten die dummen Vögel schon tun?

Von diesem Tag an legten sie Eier. Meist fanden wir vier Stück im Nest. Namen berühmter Männer haben wir unseren Hennen nicht mehr gegeben. Eier legen kann kein Mann.

Hühnereier sind eine preiswerte Alternative für Arzneimittel.

Wie das (britische) Wissenschaftsmagazin „Science“ berichtet, planen zwei (US-)Firmen erste Tests mit Eiern gentechnisch veränderter Hühner. Die Firma Genetic Works in Gran Table (US-Staat Michigan) will ihre Legebatterie so weit manipulieren, dass die Eier menschliche Gene für das Wachstum und für einen speziellen Antikörper enthalten. Pharma Genetics in Attiosh (US-Staat Georgia) hat seinen Hühnern ein Gen für die Produktion eines häufig verwendeten Krebsmittels eingepflanzt. Beide hoffen auf lukrative Geschäfte.“1

1 Nach „15 Uhr Aktuell“ Berlin vom 12. November, Nr. 221/99

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22. Juli 2008 2 22 /07 /Juli /2008 04:30
 

Dann erzählte der Kleine, Einstein hätte sich am letzten Abend komisch benommen. Er, Tim, habe das Huhn ganz still in einer Kohlenecke gefunden, bis zu seinem Wassernapf im Stall getragen und den Schnabel ins Wasser gestuckt.

Einstein lag mit dem Kopf im Napf, wie Tim ihn dort hingepackt hatte. Aus seinem uns zugewandten linken Auge schien eine gefrorene Träne zu laufen. Einstein war tot.

Timmi wollte sich an uns vorbei drängeln. Ich hielt ihn fest.

Er rief: „Das ist gemein! Warum gerade Einstein?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und wiederholte: „Warum gerade Einstein?“

Aufessen wollten wir das zarte Einsteinfleisch natürlich nicht.

Aber schon nach vier Tagen hatte Timmi ein neues allerliebstes Huhn. Es ließ sich von ihm mit versteiften, halb ausgebreiteten Flügeln streicheln und war an allen Plätzen zuerst.

Da wurde es Zeit, den neuen Chef zu taufen. Wie sollte ein Huhn heißen, das neue Welten für sein Hühnervolk erschloss? Wir entschieden uns für „Kolumbus“, den Entdecker. Sofort nahm unser Kleiner es auf den Schoß und hauchte ihm „Klumbumbus, mein lieber Klumbumbus“ ins unsichtbare Ohr.

Um die Hühner vor der unbekannten Gefahr zu beschützen, baute meine Mutter eine Einzäunung aus unserer alten Flurgarderobe. Timmi setzte alle sechs Vögel einzeln hinein; dann schufen wir mit einer Schüssel Wasser, einem Topf gestampfter Kartoffeln und einem hölzernen Sonnendach ein Hühnerparadies nach unseren Vorstellungen.

Leider verging keine Viertelstunde, da hatte sich Kolumbus eingesperrt gefühlt und seine neue Grenze überflogen.

War das ein Haschespiel rund um das geparkte Auto! Der Rennvogel vorneweg, Tim rechts herum hinterher, dann Timmi kehrt, dem Huhn entgegen, das unterm Auto durch. Das Gleiche anders herum, nur diesmal floh das Huhn über das Dach des Autos. Timmi fluchend, das Huhn gackernd, wir lachend. Erst als der Kleine um Hilfe rief, mussten wir dem Schauspiel ein Ende bereiten.

Kolumbus wurde in seine Ecke zurück gesetzt. Doch kaum hatten die alarmierten Nachbarn unser Grundstück verlassen – nicht ohne den Ratschlag, allen Hühnern die Flügel zu stutzen, und zwar einseitig, damit sie beim Losfliegen abstürzten, da konnten wir Kolumbus wieder durch die Gartenbeete jagen. Das überzeugte meine Mutter von der Notwendigkeit gestutzter Flügel. Heimlich lief sie mit der Schere zum Stall.

Timmi stürmte am Tag danach vor dem Essen zum Gatter und berichtete: „Heute sind alle Hühner drin. Sogar Klumbus.“

Ich sah Mutti wütend an. Sie tat, als merkte sie nichts.

24 Stunden später aber kam Tim mit einem Entsetzensschrei in die Mittagsküche: „Klumbumbus ist weg! Die Hühner! Klumbumbus...“ Meiner Mutter war ihre Verlegenheit anzusehen. Wenn sie sagte, das sei unmöglich, musste sie eingestehen, warum. Im Gänsemarsch überzeugten wir uns einer nach dem anderen, dass wirklich nur fünf Hühnchen auf den Krümeln herumhackten. Mein Bruder brüllte wie ein Besengter: „Kolumbus, wo bist du?“

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21. Juli 2008 1 21 /07 /Juli /2008 04:27
 

Einstein und Kolumbus waren Hühner und – wie alles bei uns – etwas Besonderes.

Mein kleiner Bruder Tim hatte sich schon seit langem Tiere gewünscht. Ein Pferd, einen Esel, eine Kuh, eine Ziege, Schafe, Hühner, Enten, Kaninchen oder einen Waschbären. Ich hatte auch nichts dagegen. Grit hatte uns ein Kaninchenbaby angeboten. Aber Mutter blockte: Es sei Winter, wo sollten wir hin mit dem Tier und überhaupt hätten wir eh schon genug ungelöste Probleme. Ständiges Draufherumklopfen macht das zäheste Kotelett weich, dachten wir, und Mutti war sehr zäh, wenn es um unsere Wünsche ging.

Dann sollte ein Auto mit jungen Hühnern, die braune Eier legten, durch die Siedlung kommen. Wer welche haben wollte, sollte sich melden. Ich rief an, dass wir wollten. Sie würden deshalb direkt vor unserem Haus halten. Nun galt es nur noch, meine Mutter von den Hühnern zu überzeugen. Dabei half mir Timmi mit seiner Morgenmuffelei. Wie immer wollte er nicht aufstehen. Meine Mutter hatte die erste vergebliche Weckzeremonie bereits durch. Da rief ich: „Unsre Hühner kommen!“

Sofort sprang der Kleine auf, stotterte aufgeregt „Wo? Wann?“ und „Warum hat mir keiner was gesagt?“

Die letzte Frage hätte genauso von Mutti kommen können, die fassungslos zusah, wie Tim in höchstens zwei Minuten vollständig und ordentlich angezogen war.

Mit Hühnchen kuscheln. Ich will zu meinen Kuschelhühnern. Eier suchen, Ostern feiern.“ Wer hätte da nein sagen können?

Endlich war das Hühnerauto da. Sieben Vögel flatterten in ihren künftigen Stall. Genauer, sechs richtig ängstliche und ein besonderes. Das untersuchte sofort einen Steinhaufen auf seine Verwendbarkeit für ... keine Ahnung, was Hühner mit Mauersteinen anfangen können. Das war also ein Forscherhuhn. Und da es den Kopf bewegte wie unser Physiklehrer, sollte es dessen Spitznamen bekommen: „Einstein“.

Nachdem ich meinem kleinen Bruder erklärt hatte, das sei ein berühmter Forscher gewesen, war er mit dem Namen einverstanden und hüpfte im Freudentaumel um das Huhn herum: „Einstein, kein Stein, ein Stein, kein Stein!“

Ich dachte die ganze Zeit an das Bild von Einstein, also dem richtigen, mit herausgestreckter Zunge.

Alle normalen Hühner flüchteten durch den Kriegstanz meines Bruders eingeschüchtert in eine Ecke. Nur Einstein nutzte die Gelegenheit, den künftigen Stall unverschlossen zu erleben, zu einem Erkundungsausflug.

Mit diesem Tag begann für die Hühnerschar eine glückliche Zeit. Unbeaufsichtigt ließen wir sie überall in Hof und Garten herumlaufen. Sie schonten die Erdbeerpflanzen und jäteten den Löwenzahn dazwischen. Meine Mutter freute besonders, dass die Tiere nur ganz leise vor sich hin gackerten.

Allerdings blieb Einstein das einzige Eier legende Huhn. Bald sah meine Mutter die Vögel immer feindseliger an. In ihren Augen waren Hühner, die nur vorne fraßen, um hinten zu kacken, absolut unnütze Tiere. Und diese Hennen fraßen ständig. Nachdem die mitgebrachten Futterreserven aufgebraucht waren, drangen sie bis in die Küche vor, als Tim die Türen offen gelassen hatte.

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19. Juli 2008 6 19 /07 /Juli /2008 04:11
 

Ja, ich bin kränklich!

Aber an nervende Zudringlichkeit grenzend beharrlich. Wie ein Ruderer konnte ich Zug um Zug meine mageren Ärmchen für eine Bewegung einsetzen, die sie an ein Ziel bringen würden, was während der ganzen langen Ruderei unsichtbar blieb.

Das Rudern wurde meine Disziplin: Ich kaufte mir einen Rudertrainer. Jeden Abend absolvierte ich meine Strecken. Nein nicht irgendwie. Jeden Abend stellte ich neue Rekorde auf. 12 Widerstandsstufen konnten eingestellt, die gesamte zurückgelegte Strecke und der Kalorienverbrauch abgerechnet werden. Sechs verschiedene Stufen wählte ich jeden Tag und mindestens in einer von ihnen erfasste ich eine noch nie erbrachte Leistung.

Nach einem Monat schlich ich heimlich zum Spiegel im Flur. Schweißtriefend glanzbrüstig. Ich bewegte meine Arme. Bevor noch ein Blick meiner Tochter meine Lächerlichkeit offenlegen konnte, hatte ich Muskeln entdeckt. Für Actionfilme reichten sie nicht, aber zum Anspornen, die Trainingsabende zu verlängern. Rekorde mussten sein. Bald würde ich einen Fachmann fragen können, wie welcher Muskel hieß. Zur Lesung in diesem Haus der Häuser würde ich ein anderes Hemd anziehen.

Ob ich dann Luise auffiele?

Das Trainingshalbjahr hatte 171 Tage. Nun konnte mein Oberkörper vielleicht von meinem Gesicht ablenken.

Es war ein wunderschöner Abend.

Obwohl – von der Lesung hörte ich nichts; ob Achram neben mir saß, bemerkte ich nicht. Es wäre mir genauso egal gewesen wie die kunstkennerischen Begriffe, die vor Beginn der Veranstaltung den Sauerstoff des Vorraums verdünnten.

Eine Pause gab es diesmal nicht. Man würde nach Schluss gemütlich zusammen sitzen. Auch der Künstler würde sich unter die Kenner mischen. Ich fieberte einem Mittelplatz an der Theke entgegen.

Und dann?

Nein. An diesem Abend begegnete ich keinem Achram. Der Mensch, der neben Luise an der Theke stand, das hätte ich sein können, als ich 22jährig Fotos von mir vermied. Ich sah, wie er scheinbar unabsichtlich sanft über Luises Becken strich und dass dieses Becken noch einen solchen Menschen behütete wie ihn oder mich, nur als ganz kleines Etwas.

Ich habe nichts zu trinken bestellt.

Ich habe meinen Oberkörper verhüllt, als ich am heimischen Spiegel vorbeiging.

Ich habe Nina fester in ihre Decke eingehüllt, damit sie sich nicht erkältet beim Schlafen.

Ich habe mich auf mein Rudergerät gesetzt und – obwohl ich meine Listen aufgeschlagen hatte – nicht gewusst, in welcher Disziplin ich einen Rekord aufstellen sollte. Aber gerudert bin ich. Bis in einen traumlosen Schlaf.

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18. Juli 2008 5 18 /07 /Juli /2008 04:08
 

Achram war Kurde und mir als Fremder unter Fremden besonders sympathisch. Gelegentlich hatten wir unsere Sitzplätze nebeneinander.

An jenem Tag gab es eine Pause während der Lesung. Die Zuhörer liefen gesittet zur Theke herunter, um ein paar nichts sagende Worte mit ihren Gläsern oder den Gläsern ihrer Zufallsnachbarn zu wechseln. Glück und Langsamkeit reservierten mir einen kaum bemerkbaren Seitenplatz, von dem aus ich die Serviererin beobachten konnte, ohne aufdringlich zu wirken. Zumindest glaubte ich das.

Plötzlich verdampften alle Gäste in einem Salpetersäurebad. Aus meinen Augen schossen 50 Schlangenarme, die dieses Mädchen an der Theke umfassten. Oder war es eine Frau? Oder die Tochter des merkwürdigen Hausherrn? Vielleicht hatte sie drei Kinder von einem, der saufend nichts mit seinem Glück anfangen konnte, vielleicht von eben diesem Hausherrn? Für mich aber war sie ein Mädchen, das vor meinen Schlangenarmen noch unberührt gewesen war. Ihre dunklen kurz geschnittenen Haare verbargen nur mühsam eine unsichtbare exotische Bauchtänzerinnenfrisur. Über ihren Wangenknochen leuchteten zwei Saphire, die gut zu ihrer halb geöffneten Bluse passten. Der Gesang auf ihren Lippen gab jeder Salpeterwolke ihre männliche Gestalt zurück.

Eine mystische Schönheit. Die könnte mich schon reizen.“

Das hatte Achram gesagt und erst jetzt bemerkte ich seine Nähe. Sein entblößender Blick hatte meine Schlangenarme abgelöst. Seine Fingerspitzen vibrierten in einem gläserklirrenden Orgasmus und ich musste einsehen, dass ich mich aus meiner ureigenen Winzigkeit für einen Moment zwischen vielleicht glückliche Menschen verirrt hatte.

Von nun an mied ich alle Veranstaltungen in diesem Hause. Es fiel mir schwer.

Oft beim Einschlafen hoffte ich, ihr Körper könnte in einer Galaxis zu Hause sein, in der ein Mann wie ich etwas für sie bedeuten konnte. Und wenn ich fast eingenickt war, verwandelte sich mein Buchhalterbrustkorb in ein ausladend einladendes V und dort, wo die Arme ansetzten, wölbten sich Schutz gebende Muskelberge über die abstehenden Ohrspitzen. Und Luise lag als beglückte Puppe in meinen starken Armen.

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