Streit und Widerstreit
Horst Schneider »Hysterische Historiker Vom Sinn und Unsinn eines verordneten Geschichtsbildes“ Verlag Wiljo Heinen, Böklund 2007,3o4 Seiten, brosch., ISBN 978-3-939828-14-3, 12,00€
Ein Stabreim im Buchtitel - wenn das keinen harmonisierenden Zusammenklang eines wechselvollen Inhalts bedeutet. dann ist’s die notwendige Ironie, mit der man sich heutiger Geschichtsschreibung nähern sollte. Vom Sinn und Unsinn eines verordneten Geschichtsbildes« handelt die Streitschrift des Dresdner Historikers Horst Schneider und zielt auf die sich objektiv und wissenschaftlich gebende Geschichtsdarstellung der DDR im heutigen „einig Vaterland«. Wer die Flut der Publikationen zum verflossenen Staat auf deutschem Boden überschaut, findet eine Geschichtslandschaft. die von Diktatur und Stasi.von Unrechtsstaat und trutzigem Widerstand dagegen, von Nischen und Ampel- oder Sandmännchen geprägt ist.
Der Autor, jüngst erst 80 geworden, will auf seine alten Tage ein solches Bild nicht dauernd vorgehalten bekommen und wenigstens hie und da ein paar Korrekturen zurechtrücken. Er beginnt Grundlegendem. mit der Gleichsetzung von Nazidiktatur und proklamierter „Diktatur des Proletariats“ in der Rubrik Totalitarismus. Er wählt aus der uferlosen Fülle von Zitaten etliche, deren Grundtenor und verräterischer Höhepunkt das Postulat ist, man dürfe nicht den gleichen Fehler wiederholen, den man gegenüber dem „Dritten Reich“ begangen habe, sondern es gelte, gründlich mit dem verbrecherischen System der DDR abzurechnen. Diktatur gleich Diktatur. Wenn man sich auf das Niveau von Hubertus Knabe oder Guido Knopp begibt. ersterben ernsthafte Argumente schon auf der Zunge. Es bedarf äußerster Anstrengung. sich Tiraden anzutun. die eigentlich nur umsetzen was Klaus Kinkel 1990. einst Außenminister und FDP-Vorsitzender, als Ziel formuliert hatte. nämlich alles für die Delegitimierung der DDR zu tun. Joachim Herrmann und Hein Geggel von der SED-Propagandaspitze haben nie solche Effektivität erreicht.
Horst Schneiders besonderes Verdienst in diesem Umfeld ist die Einbeziehung der BRD-Geschichte in die konkrete historische Beurteilung gesellschaftlicher Bereiche - von Eigentum über Ideologie bis Erinnerungspolitik. Er zeigt, wie tief greifend die welthistorischen Umstände auf Entwicklung und Politik beider deutschen Staaten gewirkt haben. Die geschenkte Revolution auf dem Gebiet der späteren DDR war vom ersten Augenblick an bedroht, und zwar nicht nur aus Richtung Westen. Das fortwährende Infragestellen der DDR als eigenes Staatswesen brachte Abwehrreaktionen hervor, die mancher - bis heute - als notwendig erachten mag, die aber das Bild des Aufbruchs eines zukunftsträchtigen Staates der Arbeiter und Bauern bereits damals trübten. Wenn »Linke« heutzutage die Geschichte der DDR »aufarbeiten« (was immer das sein mag), dann suchen sie weitgehend in den internen Verhältnissen Fehler und Defizite, die letztlich zum sang- und klanglosen Abgang des sozialistischen Projekts auf deutschem Boden geführt haben.
Als grundlegender Mangel wird unisono das Defizit an Demokratie ausgemacht, das je nach Definition des Begriffs leichter oder schwerer zu werten ist. Der Autor geht ins konkrete Detail, vergleicht Strukturen diesseits und jenseits der Elbe mit den Verhältnissen der Nazi-Diktatur und kommt zu bemerkenswerten Übereinstimmungen wie Abweichungen. In seiner »Abwehrschlacht« gegen die Fälschungen und Unterstellungen von BRD-Geschichtsschreibung und -Politik lässt er selbstkritischer Befragung jedoch (vielleicht?) zu wenig Raum. Erklären lässt sich vieles, entschuldigen weniges, ungeschehen machen gar nichts. Alle Diskussionen, die ich mit vor allem jungen Leuten führe, machen sich an konkreten Beispielen fest, wozu nicht zuletzt die Medien beitragen, z. B. mit Filmen wie »Die Frau am Checkpoint Charlie«. Was in der Geschichte zur Fußnote wird, das Einzelschicksal, bestimmt oft genug das Gesamturteil über ganze Epochen. Wirkung - so zeigt es Lessing in seiner »Laokoon«- Abhandlung ist nicht durch Darstellung der historischen Schlachtfelder, sondern durch die »Großaufnahme« des einen Gefallenen zu erreichen. Das hat mit Wissenschaft, mit dem, was wir Geschichte nennen, freilich wenig zu tun. Alles, was an Geschehenem in die Geschichte eingeht, muss erst von ihr überhaupt bemerkt und gefiltert werden. Horst Schneider erläutert in seinem »Ideologie«-Kapitel überzeugend und detailreich, welche Rolle der Geschichtsschreiber spielt, welche Interessen ihn leiten, wessen Brot er isst. Die in den Denkspuren des Totalitarismus-Begriffs (letzterer kann seine Herkunft aus der formalen Logik kaum verleugnen) ihr - bei allen Widersprüchen - »gleichgeschaltetes« Geschichtsbild konstruieren, sind den herrschenden Machtverhältnissen vor allem deshalb dienlich, weil sie schon die Träume von einer friedlichen, sozial gerechten, wirklich menschlichen Welt im Voraus delegitimieren (siehe die aktuelle SPD-Debatte um die schlimmsten Auswüchse der »Agenda 2010«). Was der Autor unter der Überschrift »Erinnerungspolitik« zusammenfasst, bringt die Interessenlage von Traditionalisten der Kommunismus- bzw. DDR-Forschung West in Gemeinsamkeit mit einer Gruppe »Bürgerrecht1er« Ost auf den Punkt: Vom Schwerpunkt »Stasi« aus soll die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit der DDR in drei Themenbereiche hineingefiltert werden:
»Herrschaft - Gesellschaft - Widerstand«, »Überwachung und Verfolgung« sowie »Teilung und Grenze« Um der medialen Übermacht zu widerstehen, ohne in ein »Schabowski-Trauma« zu verfallen oder sich in einer Entschuldigungsspirale zu verfangen, sieht Horst Schneider nur das Genre einer Streitschrift als letzte Chance, die Attacken der herrschenden Ideologen abzuwehren. Er müht sich mit Begriffs- und Definitionserklärungen, mit Verweisen auf historische Fakten, manchmal mit dem Mut der Verzweiflung, an tatsächlichen und bleibenden Werten der deutschen Arbeiterbewegung zu retten, was noch zu retten ist.
Er gibt vielerlei Denkanstöße für die »Produktivkraft Geschichte«, ohne die eine linke Volksbewegung nicht auskommt. In diesem Zusammenhang muss aber noch von etlichen gravierenden Beharrungsinseln in der Schneiderschen Geschichtsbetrachtung die Rede sein. Er sieht das Verständnis der Gesetzmäßigkeiten geschichtlicher Entwicklung und die revolutionäre Rolle des Proletariats darin fast sakrosankt. Doch Niederlage bleibt Niederlage Und eine Welt globalisierten Kapitals wirft auch auf die Vergangenheit neues Licht, vor allem aber stellt sie für die bewusste Gestaltung von Zukunft neue Fragen.
Ich komme noch einmal auf den Begriff und auf die unterschiedliche reale »Aufarbeitung« von DDR-Geschichte vieler „demokratischer Sozialisten“. und Totalitarismus-Aufklärer zurück. Ich kann ein antikes oder sonst wie verschlissenes Möbelstück so »aufarbeiten«, restaurieren, dass es wieder wie neu aussieht. Auf Geschichte angewendet. führt sich solcherlei Bemühung von selbst ad absurdum. Es bedarf der gründlichen Analyse. die nicht in Dokumentengläubigkeit verharrt, die das Einzelschicksal als Teil des Ganzen zur Kenntnis nimmt, ohne es für das Ganze zu halten, die Zwänge und Notwendigkeiten des Handelns durchleuchtet und unauflösliche Widersprüche als Sterne dauernder Denkanstoßes auf dem Weg der Erkenntnis stehen lässt. Die Teufelmacher scheitern von vornherein daran, die Heiligenscheinproduzenten ebenfalls.
Linkes Denken darf die Erfahrungen aus der DDR-Vergangenheit weder links noch rechts be~ lassen. Was auch immer das Gefängnis des globalisierten Kapitalismus aufbrechen mag. es wird keine Oktoberrevolution mehr sein. Und allen, die das Fehlen von Demokratie zu DDR-Zeiten beklagen, aber auch jenen, die das Vorhandensein von Demokratie im Einheitsdeutschland bejubeln, sei mit Schneiderschem Ungestüm ins Stammbuch geschrieben: Demokratie erfordert Menschen mit der Motivation, sich ihrer Interessen bewusst zu. werden, das heißt als Voraussetzung Bildung und Selbstbewusstsein des Bürgers. Angesichts von Kinderarmut und Hartz IV ist kaum zu leugnen: Demokratie muss man sich leisten können.
„Jeder aber lügt, der bewusst im Hörer falsche Vorstellungen und Annahmen erregt, mit dem Willen, daraus Nutzen zu ziehen oder einen Zweck damit zu erreichen.“
Arnold Zweig (1887 -1968), Essays. Erster Band, Berlin 1959, S. 367
veröffentlicht in ICARUS 1/2008