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germanist 

 

marbach Germanistik im Netz - Virtuelle Fachbibliothek Germanistik  

Gegen deutsche Kriege

22. April 2009 3 22 /04 /April /2009 07:00

Der Tee

wird bitter

schmecken,

das Basilikum

verwelken,

die ausgeleerte

Maxiflasche Bautzner

Senf

nicht aufgefüllt.

 

Ich werde in

leere

Schubladen

atmen,

den abgeräumten

Schreibtisch

riechen,

die nackten

Wände

hören

und bald

ohne

Worte sein.

 

aS 28/09/06

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21. April 2009 2 21 /04 /April /2009 06:57

meinem Professor für Quantenchemie

 

Weiße Vögel

flattern

zwischen Tafel und Pult.

Kurze Ruhe um

den Sturzflug zu genießen

und wieder aufzufliegen,

nur für Augenblicke

gemeinsam

auf dem Weg.

 

Formeln

weiß auf grün

dahingewischt,

mit jeder Bewegung

unlösbarer verschlüsselt.

 

Nur diese Hände,

die Haut von Jahrzehnten

noch ohne Falten

klammern sich

an die Reste der Aufmerksamkeit

im Auditorium.


aS 07/ 04/ 81

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19. April 2009 7 19 /04 /April /2009 08:04

Wieder wurde es Sommer. Jo war jetzt sieben Jahre alt. Tagsüber, wenn der neue Pappi auf der Arbeit war, ging sie zur Großmutter. Heimlich, die Mutter bangte, dass er es eines Tages erfahren würde. Das kleinste Missgeschick, eine Unachtsamkeit - und der Teufel wäre bei Borkmanns los. Aber Jo war geschickt geworden. Wenn der neue Pappi fragte, was sie den Tag über angestellt hatte, hatte Jo sich allerhand Ausreden zurechtgelegt: auf der Straße gespielt, mit der Mutter einkaufen gewesen, mit Veronika gespielt, der Mutter in der Küche geholfen.

Großvater murrte. „Du, Jule", Großvater winkte Jo gefährlich mit dem kleinen Finger, „du kannst deinem Großmaul sagen, wir füttern hier sein angeheiratetes Balg durch. Das kostet was." Das Großmaul, das war der neue Pappi. Und das angeheiratete Balg, das war sie, Jo.

Großmutter ging jetzt fast jeden Tag zur Kirche. Öfter nahm sie die Enkelin mit. Jo lernte beten und Kirchenlieder singen. Als sie noch bei der Großmutter wohnte, hatte sie schon Kindergebete gelernt: „Ich bin klein, mein Herz ist rein, du bist mein Gott, ich will immer artig sein."

Großmutter las in der Bibel, während das Mittagessen auf dem Feuer brodelte. Und sie erzählte der Enkelin, wie es war, als Gott die Menschen schuf: Er nahm einen Klumpen Lehm, und so entstand Adam. Und dann operierte er Adam eine Rippe heraus, das war Eva. Sie erzählte auch, wie Gott die Erde erschaffen hatte und das Weltall: in sechs Tagen.

Jo war skeptisch. Manchmal dachte sie, die Großmutter nehme sie nicht mehr ernst. Die Geschichte von Adam und Eva zum Beispiel, das war doch ein Märchen. Was sollte sie mit Märchen, sie war doch schon groß, und sie wusste, wie Menschen gemacht werden, Ingo hatte es ihr erklärt: mit Schweinereien, und nicht im Garten Eden, sondern nachts, im Bett.

Der neue Pappi hatte gesagt, im Himmel gibt es keinen Gott, nur Wolken, und die sind für das Wetter zuständig, aber nicht für einen alten Mann mit langem Bart. Und Engel gebe es schon gar nicht. Gott, das sei nur was für Bekloppte, eine Droge fürs dumme Volk. Und seine Kinder sollten mal kluge Menschen werden, die nicht der Kirche und dem Papst auf den Leim gingen, sie sollten auf ihre eigene Kraft vertrauen und auf ihren eigenen Kopf. Deshalb würden sie auch keine schlechteren Menschen werden, jopp tui matsch. Jo hatte alles begriffen, nur dieses „jopp tui matsch", was hieß denn das?

Der neue Pappi lachte. „Das ist Russisch. So fluchen sie in Russland." Er kannte noch allerhand andere Flüche. „Einer schlimmer als der andere", sagte die Mutter. „Fluch nicht vor dem Kind."

Großmutter, als Jo ihr erzählte, dass es keinen Gott gibt, war entsetzt: „Aber Kind, wie kann man das einem so jungen Menschen bloß beibringen! Sowas Verantwortungsloses! Wie willst du denn durchs Leben kommen - ohne Gott? Komm heute mal mit in die Kirche, ich zeig dir, dass es Gott gibt. Und außerdem steht es in der Bibel."

Jo ging mit zur Kirche. Sie kannte Pfarrer Neubert schon lange, er war ein freundlicher Mann, der ihr manchmal einen Keks und bunte Bildchen zugesteckt hatte. Der Weg zu Großmutters Kirche war weit, und als sie ankamen, war der Gottesdienst fast beendet.

„So gedenken wir denn der Toten des schrecklichsten aller Kriege", sagte Pfarrer Neubert am Altar und warf einen strengen Blick auf die Neuankömmlinge, „die wie unser Herr Jesus Christus ihr Leben gegeben haben für uns Sterbliche in diesem Jammertal und die wir nur mit Gottes Hilfe würdig sind, dieses Geschenk anzunehmen. Amen."

In den Bänken saßen ein paar alte Frauen. „Amen", sagten sie.

„Wir singen jetzt ‚Christlicher Glaube und christliches Leben‘, liebe Gemeinde, Seite 243."

Er begann zu singen:

„Durch Adams Fall ist ganz verderbt

menschlich Natur und Wesen

ohn Gottes Trost, der uns erlöst

hat von dem großen Schaden,

darein die Schlang Eva bezwang,

Gotts Zorn auf sich zu laden."

Die alten Frauen bewegten die Münder, Großmutter sang mit kräftiger Altfrauenstimme, sie schloss halb ihre Augen. Das Lied hatte viele Strophen, und als der Gesang an die Stelle gekommen war: „... durch unsern Herrn Jesum Christum, deinen Sohn, der mit dir und dem Heiligen Geiste lebet und regieret von Ewigkeit zu Ewigkeit.", seufzte sie aus voller Brust. „Warum singst du nicht mit? Du kennst das Lied doch", sagte sie zu Jo.

Jo konnte ihr nicht erklären, dass sie, egal, was sie tat, irgend jemanden verraten müsse: entweder sie, die Großmutter, oder den neuen Pappi. Deshalb probierte sie es, keine Verräterin zu werden, indem sie zwar mit der Großmutter in die Kirche ging, aber nicht mitsang, keiner von beiden konnte ihr so einen Vorwurf machen.

„Wo ist denn nun Gott?", fragte sie. „Du wolltest ihn mir zeigen."

Großmutter wurde ernst. „Man kann ihn nicht sehen, man muss ihn spüren, er ist überall, vorn am Altar, in der Kerze, sogar in der Luft, in mir, in dir, in jedem Menschen", sagte sie. „Der gottlose Schubiak, dein sogenannter Vater, ist nur zu dumm, das zu begreifen. Das hat er in Russland gelernt."

Es war schon früher Nachmittag, als sie nach Hause kamen. Großvater empfing sie wütend. „Wie lange soll ich noch warten, bis du Jule dich um deinen Mann kümmerst! Jeden Tag in die Kirche latschen, Pfaffe hier, Pfaffe da - aber zu Hause sitzt dein Mann und schiebt Kohldampf! Ab heute geht es nur noch sonntags in die Kirche! Basta!"

Jo dachte nach: Wer nicht in die Kirche ging und Gott nicht in sich spüren wollte, war ein gottloser Schubiak wie der neue Pappi. Aber Großvater? Der wollte doch auch nicht Gott in sich spüren, der ging nie zur Kirche und las auch nicht in der Bibel. War der auch ein gottloser Schubiak? Und warum war er dann Großmutters Mann?

Abends, wenn sie in dem alten Kinderbett in der Küche lag und betete, wartete sie darauf, Gott in sich zu spüren. Aber sie spürte ihn nicht. Nur das Knie tat weh, das spürte sie. Das kam davon, dass das Bett zu kurz war, und vom Wachsen, hatte der neue Pappi ihr erklärt. Im Herbst werde sie eingeschult. Bis dahin würde er ein neues Bett auftreiben müssen.

Sie konnte schon das Vaterunser. Großmutter hatte es ihr so lange vorgesprochen,

bis sie es auswendig aufsagen konnte. Jeden Abend vor dem Einschlafen flüsterte sie es, in der Hoffnung, eines Tages Gott doch noch in sich spüren zu dürfen. Sie war gerade bei „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern", als sie zusammenschreckte: Der neue Pappi stand neben ihrem Bett.

„Was flüsterst du denn da?"

„Nichts. Gar nichts."

„Aber ich habe doch ganz deutlich gehört, dass du geflüstert hast. Seit wann wird denn bei Borkmanns gebetet?"

„Ich habe gesprochen, nur so, mit mir selbst ..."

„Red keinen Unsinn, ich habe doch alles verstanden! Also, woher hast du das?"

„Von ... , aber schimpf nicht, von Oma. Sie hat gesagt, wenn ich jeden Abend bete, werde ich Gott in mir spüren."

„Gott! Simplicius! Heiliger Bimbam! Dass ich nicht lache! Das kann auch bloß auf dem Mist von denen da unten wachsen! Also, mein Fräulein, ab jetzt: Noch ein einziges Gebet, und du lernst mich kennen! Hast du verstanden?"

„Ja, hab ich."

„Na, dann verstehen wir uns ja."

Am nächsten Morgen kam die Mutter in die Küche gestürzt. „Was war denn hier gestern abend los? Was hast du angestellt? Es ist wegen dir. Die brüllen sich bei Muttern an wie die Kesselflicker!"

Jetzt hörte Jo es auch: Der neue Pappi und der Großvater schrien sich an. Es schallte durchs ganze Treppenhaus. Sie verstand nicht, worum es ging. „Vielleicht", mutmaßte sie, „wegen dem Vaterunser gestern abend?"

„Himmel, meine Mutter. Ihr Frommtun! Und du? Lass die Beterei, Jo. Das bringt bloß Unglück. Aber dass der Helmut gleich so auf die Pauke hauen muss! Herrje, und mein Vater, der Stinkstiebel! Die schlagen sich die Köpfe ein!" Sie lief die Treppe hinunter.

Jo stand an der Tür. Sie lauschte. „Du hirnverkleisterter Stalinanbeter! Du vaterlandsloser Bolschewist!", hörte sie Großvater brüllen. „Du verdammter, störrischer Stehkragenprolet!", die Antwort des neuen Pappi. Polternde Schritte auf der Treppe. Jo huschte ins Bett zurück.

„Dem hab ich es aber gegeben!" Der neue Pappi schnaufte. „Wo gibt es denn sowas!

Mir das Kind mit dem Pfaffenkram versauen! Wenn ich dich noch mal beim Beten erwische! Die Neussens da unten existieren nicht mehr! Merk dir’s! Ein für allemal!"

Jo kroch unter das Bettdeck.

Wenn sie nur wüsste, wer recht hatte: Großmutter oder der neue Pappi. Sie trat ans Küchenfenster, barfuß und im Nachthemd. Am Himmel war außer Wolken nichts zu sehen. Sicher hatte der neue Pappi recht, da oben konnte doch niemand sitzen. Der würde runterfallen, der müsste sich schon an den Wolken festhalten. Aber Großmutter hatte gesagt, man könne Gott nicht sehen.Verflixt, wer hatte denn nun recht?

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15. April 2009 3 15 /04 /April /2009 10:41
Der Termin rückt näher:
Am 4.5., 19 Uhr, servieren wir im Kulturforum Hellersdorf unsere "literarische Maibowle".

Wer seine Früchte in diesem Mix wiederfinden will, reiche sie bitte bei mir ein. (Thematische Einschränkungen bestehen nicht. Die Veranstaltung sollte aber einen der Jahreszeit entsprechenden optimistischen Gesamteindruck verbreiten.
Sinnvoll ist
a) eine nicht zu große Zahl von Beiträgen (obwohl es ja die Vorstellung unseres Autorenkreises sein soll),
b) ein abgestimmtes Programm, was die Reihenfolge der Beiträge betrifft,
c) eine zeitliche Beschränkung aller Autoren (nur ausnahmsweise und abgestimmt mehr als 10 Minuten)

Leider bot der letzte Zirkel keinen Rahmen für eine vorbereitende Abstimmung, sodass dieser Weg notwendig wird, damit das Programm beim nächsten Zirkeltermin steht.
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11. April 2009 6 11 /04 /April /2009 08:00

Die letzte Untersuchung beim Arzt. „Gratuliere", sagte er, „du bist wieder völlig gesund. Aber um den Lebertran, junges Fräulein, um den kommst du nicht herum. Wir geben dir eine Flasche mit." Er lachte gutmütig.

Es ging ans Kofferpacken. Die Schwestern halfen den kleineren Kindern, Jo war jetzt alt genug, um ohne Hilfe auszukommen. Alles zwitscherte und lachte: Es geht nach Hause!

Nur Jo lachte nicht. Sie stand am Fenster und sah ein letztes Mal auf das Meer hinaus.

Meer, Meer, dir ist es egal, wer an deinem Ufer weint. Deine Wellen werden wie eh und je in die Brandung schlagen, wie eh und je werden die Möwen kreischen. Nur ich, Jo, bin dann nicht mehr hier.

„Jo, komm schon, anstellen! Es geht los." Mariechen schien noch zarter geworden zu sein. Auch sie würde aus Jos Leben verschwinden. Jo gab ihr einen Kuss. „Falls wir auseinandergerissen werden. Du fährst nach Köln und ich nach Berlin. Ich schreib dir, sobald ich schreiben kann. Wirst du mir schreiben? Merk dir meine Adresse: Berlin, Kellerstraße 11."

Diesmal wurde Jo nicht seekrank. Die Rückfahrt kam ihr kürzer vor als die Hinfahrt, der Schaukelzauber war weg. Kaum auf dem Schiff, und schon kam Hamburg in Sicht. Der Zug fuhr ein. Die Kinder wurden eingeteilt, wie Jo es geahnt hatte: Die Berliner in einem Wagen, die westdeutschen Kinder in einem anderen. Unterwegs würde der Zug getrennt, sagten die Schwestern.

 

Mariechen weinte. Sie umarmte die Freundin. „Ich schreib dir, Ehrenwort!" Dann war sie in der Mädchengruppe untergetaucht.

Jo saß am Fenster. Sie war traurig. Alles, was sie sah, sah sie heute zum letzten Mal: Das Meer, Mariechen, das Schiff, wieder das Meer, den Zug. Warum? Die Landschaft flog vorüber, Felder, Wälder, zerstörte Städte. Die Dampflok prustete, sie hatte es heute eilig.

Es war schon dunkel, als der Zug Berlin erreichte. Alle schrien und lachten, sie hatten ihre Verwandten auf dem Bahnhof gesehen und winkten. Jo wartete, bis die Drängelei vorbei war, dann stieg sie ganz langsam aus. Sie sah sich um: Die Großmutter war nirgends zu entdecken.

Aber da, die Mutter! Und Onkel Fred war dabei, der andere Borkmann-Sohn, den sie kaum kannte.

Die Mutter stürzte auf sie zu, umarmte und küsste sie. „Mein Gott, was bist du groß geworden. Und dick! Sieh mal, wen ich mitgebracht habe. Eine schöne Überraschung."

Jo gab Onkel Fred die Hand und machte einen Knicks. „Guten Tag, Onkel Fred", sagte sie.

Onkel Fred lachte. Er lachte so sehr, dass ihm die Tränen kamen. Jo verstand nicht: „Warum lachst du?"

Onkel Fred lachte noch immer. „Aber Jo", auch die Mutter lachte, „das ist doch nicht ..."

Onkel Fred unterbrach sie: „Warte, sag nichts. Vielleicht kommt sie von selbst drauf, wer ich bin."

„Du bist nicht Onkel Fred? Du schwindelst. Klar, du bist Onkel Fred, ich weiß doch, wie der aussieht."

Onkel Fred stellte sich vor Jo hin. „Sieh mich mal genau an. Wer bin ich?"

„Onkel Fred."

„Nein, ich bin nicht Onkel Fred, ich bin ..." Die Mutter fiel ihm ins Wort: „Aber das ist doch, das ist doch, Jo – das ist der Pappi! Erkennst du ihn denn nicht? Du hast doch sein Foto gesehen, es steht auf dem Vertiko."

Jo wollte es nicht glauben. „Du bist nicht Onkel Fred? Du bist der Mann auf dem Foto, der mit dem Stahlhelm? Aber du siehst doch aus wie Onkel Fred. Wie kommt denn das, man kann euch ja verwechseln, seid ihr Zwillinge?"

„Zwillinge!" Onkel Fred lachte. „Du machst mir Spaß. Sag Pappi zu mir, ich bin doch nicht mein eigener Bruder. Ich bin dein Pappi."

„Der aus Russland? Und ich soll Pappi zu dir sagen?"

„Willst du mir keinen Kuss geben?" Der neue Pappi breitete die Arme aus.

„Nein." Jo sah misstrauisch zu ihm auf.

Die Mutter mischte sich ein. „Sei nicht bockig, gib dem Pappi einen Kuss. Mach schon. Wir müssen nach Hause."

„Und wo ist Oma? Warum ist sie nicht mitgekommen?"

Die Mutter schwieg. „Du gehst nicht mehr zu deiner Oma", sagte der neue Pappi. „Du wohnst jetzt bei uns. Wir sind eine Familie und Mutters Vater eine andere."

Nicht mehr zu Oma gehen! Zu ihrer Oma! Während der S-Bahn-Fahrt sah Jo wütend zu ihm hinüber. Er beachtete sie nicht, sondern sprach mit der Mutter. Dass er aber auch so aussah wie Onkel Fred! Wie die Zwillinge Wolfgang und Peter, die man nur unterscheiden konnte, wenn sie beieinander waren.

Das Haus Nummer elf schlief schon. Alles war wie immer, nichts hatte sich verändert. Es roch auch wie immer: nach Kohlengrus aus dem Keller, ein bisschen muffig, nach den Klos auf der Treppe. Sogar die Stelle im Treppenhaus, wo Jo ein Männchen in den Wandputz geritzt hatte, sah aus wie immer. Jo fuhr mit der Hand darüber hinweg: Guten Abend, Männeken.

 

„Darf ich bei Oma klingeln?", fragte sie.

„Oma schläft schon. Deine Sachen sind alle schon oben, bei uns in der Wohnung." Die Mutter schloss die Wohnungstür auf.

„Du schläfst in der Küche", sagte sie. „In der Stube ist kein Platz für dein Kinderbett."

„Aber ich bin doch schon viel zu groß! Da passe ich gar nicht mehr rein."

„Red nicht, sondern zieh dich aus. Morgen früh erzählst du, wie es in Wiek auf Föhr war.

Wir sind müde heute abend. Veronika schläft schon."

„Aber morgen früh darf ich zu Oma gehen?"

„Darüber reden wir noch", sagte die Mutter. „Aber dass der Pappi das nicht mitkriegt."

„Warum nicht?"

„Frag nicht. Es hat Krach gegeben. Dass du mir nicht noch mehr Ärger machst. Morgen früh, wenn der Pappi zur Arbeit geht, erzähl ich dir alles. Und jetzt gut Nacht."

Jo lag in ihrem alten Kinderbett. Es war wirklich schon zu klein geworden, sie musste die Beine anwinkeln. Sie dachte an all das Neue, das an diesem Tag auf sie eingestürmt war: Die Fahrt nach Berlin, Mariechen, die Schwestern, das Lachen der Kinder. Und heute morgen noch war sie an der Nordsee gewesen. Und - natürlich würde sie zu Oma gehen! Es hatte Krach gegeben. Warum? Jo kamen die Tränen, alles war verloren: die Nordsee, Mariechen, und jetzt auch noch Oma. Und den neuen Pappi? Den brauchte sie nicht, was wollte er hier?

Am nächsten Morgen, der neue Pappi war schon zur Arbeit gegangen, saß Jo mit der Mutter und Veronika beim Frühstück am Tisch in der Stube.

„Plötzlich stand er vor der Tür", sagte die Mutter. „Ich habe ihn kaum wiedererkannt. Er ist so dünn geworden. Ach ja. So war das, als er ..."

Der neue Pappi interessierte Jo nicht. „Warum hat es Krach gegeben?", fragte sie. „Du wolltest es mir heute morgen erzählen. Warum darf ich nicht mehr bei Oma sein?"

„Nicht so energisch, meine Tochter."

Jo starrte die Mutter trotzig an. „Ich gehe aber wieder zu Oma. Ich wollte ihr Muscheln mitbringen, aber wir durften nicht an den Strand. Ich will ihr guten Tag sagen. Ich versteh das nicht."

„Naja, der Krach ... also, ich weiß nicht, ob du das schon verstehst. Pappi war in Russland, in Gefangenschaft."

„Na und? Das weiß ich doch."

„Aber er – also wenn Krieg ist, wenn die Menschen sich totschießen, wenn also ... Nein, das verstehst du noch nicht."

„Ich weiß schon, was Krieg ist. Wenn Bomben fallen und wir in den Bunker rennen müssen."

„Aber Pappi war Soldat, und er wollte kein Soldat sein. Er musste auf Leute schießen, die er gar nicht erschießen wollte. Und da ist er hingegangen zu den fremden Soldaten, zu den Russen, und hat gesagt: Ich ergebe mich."

„Ach so. Dann wollte er nicht schießen?"

„Er wollte, dass der Krieg zu Ende geht. Verstehst du?"

„Aber das ist doch gut! Ich wollte auch, dass der Krieg zu Ende geht. Im Bunker war es so kalt. Und die schrecklichen Sirenen ..."

„Und dann musste ich zur Gestapo. Erst war er ja nur vermisst. Aber irgendwie, weiß der Himmel, ist rausgekommen, dass er Überläufer ist."

„Gestapo? Was ist das?"

„Kind, dir das zu erklären ... Sie haben eine Haussuchung gemacht, hier bei uns, vierundvierzig. Du warst damals noch ganz klein."

„Die Gestapo – das waren Soldaten?" Jo überlegte. Ja, da war etwas gewesen, ... Soldaten, ja, einmal, als sie noch ganz klein war, sie lag im Bett, es war Nacht, Geschrei, uniformierte Männer in der Wohnung, Mutti weinte, sie stand am Ofen, ganz in die Ecke gedrückt ...

Plötzlich tat ihr die Mutter leid. „Aber verhaftet haben sie uns nicht", sagte sie, und ihre Stimme war zärtlich geworden.

„Und dann musste ich hin, zur Gestapo. Aber ich hatte Glück. Der Gestapomann war einer aus meiner Klasse. Er hat den Fall vertuscht. Sie hätten uns alle ins KZ gebracht: mich, meinen Vater, meine Mutter, Siggi, alle. Dich auch."

„Aber warum darf ich deshalb nicht mehr zu Oma?"

„Herrgott, dein Opa, Jo! Ein oller Hartschädel, ein Holzklotz wie aus dem Buche! In den geht nichts mehr hinein! Verräter, hat er Pappi beschimpft. Bringst die ganze Familie ins KZ, hatte er damals gesagt, zu mir, seiner eigenen Tochter. Mein eigener Vater. Und zu meinem Mann, der gerade aus Russland kommt ..."

„Aber warum Verräter? Was soll er denn verraten haben? Und deshalb darf ich nicht mehr zu Oma? Und was ist das – ein KZ? Ein Kinderheim?"

„Frag nicht. Das wirst du später alles erfahren. Wenn du größer bist."

„Aber ich will zu Oma gehen!"

„Dann geh. Sie ist schließlich meine Mutter. Aber ich weiß von nichts."

Jo sprang vom Tisch auf. „Ich geh gleich. Sie wartet, dass ich klingle. Aber dass ich keine Muscheln mitgebracht habe ..."

Die Treppen herunterfliegen, klingeln, brrr, brrr, klingeln, klingeln – alles eins.

„Oma! Oma! Ich bin wieder da! Meine Oma!"

Großmutter riss die Enkelin an sich. Großmutter schluchzte, Jo schluchzte. Ihr Gesicht war tränennass, von ihren Tränen und den Tränen der Großmutter.

„Komm erst mal in die Stube ..." Großmutter wischte sich die Tränen mit der flachen Hand ab. „Ich altes Weib, hab am Wasser gebaut ... Komm, Nase putzen ... "

Omas Stube ... Jo schwebte hinein. Wieder zu Hause. Endlich.

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8. April 2009 3 08 /04 /April /2009 12:37

Der Winter verging mit Spritzen, Lebertran und Stürmen vor den Fenstern. Die Nordsee kam mit großen Wellen, sie spritzten die Fensterscheiben voll. Doch eines Tages schien wieder die Sonne, der Sturm war zu anderen Meeren weitergezogen. „Alles die Mäntel anziehen! Los, los! Wir gehen spazieren!" Die Schwestern klatschten in die Hände.

Spazieren. Jos Herz hüpfte vor Freude. Endlich an den Strand dürfen. Endlich das Meer sehen, es riechen, so wie es damals gerochen hatte, am Steg in Hamburg: nach Schlick, nach Kieselsteinen, nach Muscheln. Das Wasser mit den Händen schaufeln, es sollte salzig sein. Und weich wie Butter, sagten die großen Mädchen.

„Zweierreihen, an die Hände fassen! Und dass ihr euch benehmt wie die Weihnachtsengel. Sonst denken die Leute, hier kommt eine Horde Hottentotten!"

Mariechen lief neben Jo. Vor ihr unterhielten sich zwei große Mädchen über ihre Väter.

„Meiner ist ein Baron", sagte die eine. Die andere kicherte. „Und meiner Fürst Kacke."

Jo mischte sich ein. „Das ist noch gar nichts! Meiner ist der Kaiser von Amerika!"

Mariechen sah stolz zu ihr auf.

„Du spinnst ja, in Amerika gibt es doch gar keinen Kaiser", sagte die mit dem Fürst-Kacke-Vater.

„Selber spinnen macht fett. Ich bin sogar eine Prinzessin aus Chikago." Ingo hatte von Chikago geschwärmt, dort lebten nichts als Revolvermänner, hatte er gesagt, so als ob er selbst ein Revolvermann sei, und so stolz, als ob ihm dieses Chikago gehöre.

Das Mädchen blieb stehen. „Und wo hast du deine Krone?"

Jetzt war Jo in Verlegenheit. Schnell sagte sie: „Der Koffer war zu voll. Sie hat nicht mehr reingepasst."

Das Mädchen wusste keine Antwort, die Jo übertrumpfen konnte. „So was Verlogenes übersehe ich doch glatt", sagte sie abschätzig.

Mariechen schmiegte sich an Jo. Sie war sehr stolz auf die Freundin. „Eine richtige Prinzessin?", fragte sie. „Klar", sagte Jo.

Der Ort war klein, die Häuser waren klein, ein paar gepflasterte und ungepflasterte Straßen.

Leute standen am Straßenrand, sie ärgerten sich über die Heimkinder. Die Obstbäume standen weiß im Hochzeitskleid da, wohin das Auge blickte, nichts als Wiesen, grün, grün, grün. Ein paar helle Punkte darauf, weit entfernt. Die Punkte bewegten sich. „Das sind Kühe", sagten die Kinder.

„Weißt du, was Kühe sind?", fragte Jo. Mariechen hob die Schultern. Auf dem Weg lagen grüne Flatschen. „Kuhfladen", wussten einige. Wie kamen diese Kuhfladen hierher, mitten auf den Weg? Und was war das für ein Wort: Kuhf? Was ein Laden war, wusste Jo. Aber Kuhf? Mit einem Laden hatte dieses Kuhf wohl nichts zu tun.

Sie kamen an ein Bauernhaus. Der Bauer führte die Kinder in den Stall. Es stank, sie hielten sich die Nase zu. „Es muss stinken im Stall", sagte der Bauer. „Und das hier ist meine Mastsau." Ein kugelrundes, rosiges Tier, es hatte eine dicke Nase, zwei große Löcher darin. Jo stand vor dem Gitter und dachte nach: Der Bauer hatte Sau gesagt, so etwas sagte man nicht. Jos Begeisterung für die Freundlichkeit des Bauern sank.

Weiter ging der Spaziergang. Wieder Wiesen, strahlendblauer Himmel darüber, Insekten summten. Irgendwo zwitscherten Vögel. Die Kinder waren still geworden. Alle genossen das schöne Wetter, viele waren erschöpft, manche maulten, sie wollten zurück ins Heim.

„Der Deich!", wurde vorn geschrien. Jo wollte den Deich sehen, sie drängelte, Mariechen an der Hand, nach vorn. Die Kinder bestaunten den Deich. Es waren Steine, gemauerte, blanke Steine, die Insel machte an dieser Stelle einen Bogen. Das Meer schlug wütend mit seinen Wellen an den Deich. Schaum. Wie der Geifer der Brauereipferde in Herrn Kluges Schmiede.

Jo war begeistert, sie lief nach vorn. Sie breitete die Arme aus, Wellen und Geifer bespritzten sie, der Wind umwehte sie. „Hier ist die Welt zu Ende", rief sie. „Huhu, das Ende der Welt!"

Und der Wind trug ihre Worte davon, weit, weit über das Meer. Der Himmel schwieg in seinem Blau. Er war wohl derselben Meinung.

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7. April 2009 2 07 /04 /April /2009 12:29

Der Winter war da, die Nordsee schlug ihre Wellen an den Strand, auf dem eine dünne Schneedecke lag, die Möwen kreischten leiser. Und eines Tages war Weihnachten.

Die kleinen Mädchen wurden von den Schwestern kalt geduscht, sie zogen ihnen ihre besten Kleider an. Jo duschte sich allein und zog sich auch allein an: den blauen Norwegerpullover mit dem weißen Muster über der Brust, den die Großmutter gestrickt hatte, für den sie eine Wolldecke hatte aufräufeln müssen. Sogar für einen Schal, einen Pudel und Handschuhe hatte die Decke ausgereicht.

Der Essraum war verzaubert. Von der Decke hingen rote und silberne Sterne, auf den Esstischen lagen weiße Tücher und Tannenzweige, und auch Kerzen brannten. Ein Fotograf war da. Es blitzte, wenn er seine Fotos schoss. „Lacht, Kinder!", rief er, „ihr wisst nicht, wie gut ihr es habt!" Alle Kinder lachten, sie drängelten sich um den Fotografen, jeder wollte ein Bild von sich haben.

In der Ecke stand ein geschmückter Tannenbaum, er reichte bis zur Saaldecke. Alles staunte: Dass es sowas gab, so einen großen Tannenbaum! Der Heimleiter hielt eine lange Rede: Dass jetzt das Christkind geboren worden war, dass alle Menschen Brüder sind und dass das Rote Kreuz die Feier ausgestaltet hat, und alle sollten dankbar sein in diesen schlechten Zeiten für die gedeckten Tische und die guten Gaben der Siegermächte.

Und dann kam der Weihnachtsmann. Die größeren Kinder tuschelten: Es gibt gar keinen Weihnachtsmann, der da ist der verkleidete Hausmeister, und sein Bart ist aus Watte. Jo war skeptisch: Sah gar nicht aus wie der Hausmeister. Der Weihnachtsmann war doch lebendig, er teilte Geschenke an die Kinder aus. Warum sollte es ihn nicht geben?

Eine Schwester rief die Namen der Kinder auf, dann rannte das Kind zum Weihnachtsmann, machte einen Knicks oder einen Diener und bekam ein Geschenk. Jo stritt sich mit einem größeren Mädchen, das neben ihr auf der Bank saß: „Klar gibt es einen Weihnachtsmann! Ich habe doch Augen im Kopf! Da steht er doch!" Das Mädchen lachte sie aus: „Du bist ja doof!"

Als Jo aufgerufen wurde, fragte sie den Weihnachtsmann, ob er sie erkenne, noch vom letzten Mal. Der Weihnachtsmann war verlegen, die Schwestern lachten. Der Weihnachtsmann erkannte sie nicht, so viel war klar. Er hatte ihr wieder eine Puppe mitgebracht, aber ohne Schlafaugen und ohne echte Zöpfe. Jo flüsterte dem Weihnachtsmann etwas ins Ohr. „Lauter, lauter!", riefen die Kinder. Der Weihnachtsmann lachte. „Sie fragt, ob ich ein echter Weihnachtsmann bin. Was meint ihr, bin ich echt?" Die Kinder trampelten mit den Füßen auf den Steinfußboden. „Ja, echt, echt, du bist ein richtiger Weihnachtsmann!", riefen sie. Mit einem Mal wusste Jo, dass es keinen Weihnachtsmann gab, der Weihnachtsmann war wirklich der Hausmeister. Aber sie behielt diese Erkenntnis für sich. Sollten die Kleinen an den Weihnachtsmann glauben. Sie war wütend. Die Erwachsenen logen, aber Kinder mussten immer die Wahrheit sagen, es war ungerecht.

Es gab ein Festtagsessen: Ente mit Rotkohl. Jo starrte auf ihren Teller: Das Fleischstück hatte Haare. Wie Pieker stachen sie aus dem Entenstück heraus. Sie fragte Mariechen, ob sie es haben wolle. Mariechen schüttelte mit vollem Mund den Kopf. Jo aß die Kartoffeln und den Rotkohl. Einsam lag das Stück Ente auf dem Teller.

Eine Schwester lief durch die Reihen. „Und das Fleisch? Willst du es nicht essen? Runter damit, das gibt es nicht alle Tage!" Jo sträubte sich: „Es ist so eklig." Die Schwester stemmte die Arme in die Seiten: „Eklig? Was sagst du da? Eklig? Hat man sowas schon gehört? Eklig, sagt sie! Du verwöhntes Luder! Aufsperren den Mund!" Die Schwester stopfte Stück für Stück der Ente in Jo hinein. Jo hatte den Mund voller Ente. Sie versuchte zu schlucken. Mit einmal brach alles aus ihr heraus, was sie gegessen hatte: die Kartoffeln, der Rotkohl, die Soße, auf die weiße Tischdecke. Die Schwester schrie, Jo verstand nicht, was sie sagte. Ihr war sterbenselend zumute. „Aufstehen! Bück dich!" Sie spürte die Knüppelhiebe gar nicht, so elend ging es ihr. „Du hast gar nicht geschrien", sagte Mariechen abends im Bett.

Am nächsten Tag durften die Kinder mit ihren neuen Spielsachen, die der Weihnachtsmann gebracht hatte, spielen. Die neue Puppe war nicht so schön wie die alte, aber sie war eine Puppe. Jo legte sie schlafen. Sie sang ihr ein Abendlied. „Leise, Peterle, leise ..." Die neue Puppe hieß also Peterle.

Ein großes Mädchen stand dabei. „Gib mir meine Puppe wieder!" Jo sah erstaunt auf zu dem Mädchen. „Das ist doch meine Puppe, vom Weihnachtsmann." Das Mädchen griff, ehe Jo es mitbekam, nach der Puppe. Jo kriegte ein Bein der Puppe zu fassen. Noch ein Schritt, und sie saß auf dem Hintern, das Bein der Puppe in der Hand. Das Mädchen rannte weg. „Meine Puppe, meine Puppe ist kaputt!", rief sie und schwenkte die Puppe über dem Kopf.

Die Schwestern auf ihrer Bankreihe an der Wand wurden aufmerksam. „Was ist denn hier los! Immer wieder Borkmann! Bücken!"

Jo weinte. Sie schrie bei jedem Schlag. Vor Wut! Die Erwachsenen logen nicht nur, sie waren auch zu faul, die Wahrheit herauszufinden.

Jos Weihnachtstüte, voller Süßigkeiten und Schokolade, von der sie hier zum erstenmal hörte, hatten die Schwestern im Schrank eingeschlossen. Alle Kinder hatte ihre Weihnachtstüten den Schwestern übergeben müssen. „Damit nichts geklaut wird", sagten sie. Jo und viele andere Kinder sahen ihre Weihnachtstüten nie wieder. Die großen Mädchen flüsterten, die Schwestern hätten die Tüten mitgenommen, für ihre eigenen Kinder.

*

 

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4. April 2009 6 04 /04 /April /2009 08:03

Seit zwanzig Jahren keine Mauertoten! – keine Mauern?  

  Jänner 1990

 

WENDE-ELEGIE

Lamentationes inutiles sine fine

 

Jahrzehnte haben wir

 

vertrauend einer Fiktion,

entarteten Apologeten,

in dekretierter Bescheidung

kollektiv gelebt, vegetiert

zwischen Reichtum und Not,

 

genügsam-beschränkt geträumt

von einer Welt des Friedens,

des Brotes, des Rechtes auf Leben

für jeden, für alle Menschen,

von einer heilen Welt,

 

naiv-überheblich gemeint,

wir hätten die Weisheit gepachtet,

gleich uns dächten alle im Lande,

 

gläubig der Sache willen

eigenes Unbehagen,

Skrupel, Unmut, Widerspruch,

Aufbegehren verdrängt,

 

gefühlt nicht, nicht bemerkt,

was an Verbitterung

sich da aufgestaut,

zur Erhebung treibt.

 

Jetzt, da die Ketten gesprengt

in friedlicher Revolution

 

herrscht chaotischer Taumel

polarer Emotionen,

 

finden sich Freude und Angst,

Selbstgefühl, Depression,

Zuversicht, Pessimismus,

Tatendrang, Lethargie,

Stolz und tiefe Scham

(tiefe, tiefe Scham auch!)

in und zwischen den Menschen,

Assoziationen, Parteien,

Foren, Vereinen, Verbänden,

jede Empfindung für sich

oder diverse zugleich,

nicht selten unvermittelt

alternierend bezüglich

Charakter und Kombination

ein Wechselbad von Gefühlen.

 

Jetzt, da das Volk, befreit

von Druck und Intoleranz,

 

verallgemeinerndem Schluß nach,

fragwürdig desiderablem,

als mündig gar hochgelobt,

vor der Möglichkeit steht,

basis-demokratisch

(wie demokratisch sonst?)

Mehrheitskonsens-verpflichtet

auf dem Scherbenhaufen

des hinweggefegten,

monarch-oligarchen Systems

seine Welt zu errichten,

die ihm genehme, nur ihm,

sich selbst verschworen-hörige,

Minoritäten achtende,

zwanglos integrierende,

weltoffen humanistische,

 

macht Anarchie sich breit,

sich äußernd in Demonstrationen

für und gegen alles,

in unproduktiven Debatten,

kontrovers aus Prinzip,

in wilder Urlaubnahme,

wütendem Reisedrang,

in Arbeitsbummelei,

disziplinärer, letztendes

umfassender, allgemeiner

galoppierender Depravation,

 

wächst unübersehbar

aus brodelndem Untergrund

Aggressivität

gegen Andersdenkende,

unverkennbar auch

hierzulande, so hieß es,

längst überwundene,

gegen Mitbürger, Gäste,

uns gutgläubig ergeben,

Studenten, Lehrlinge, Arbeiter,

aufgenommen als Freunde,

gegen so äußerliches

wie Herkunft, Hautteint, Akzent,

 

mehrt sich die Zahl der Bürger,

die trotz Pluralismus

betonendem Gehabe

darin sich einig sind,

daß alles, was war, war schlecht,

die, preisgebend Identität,

Charakter selbst und Stolz,

als Schnorrer sich prostituieren,

Sirenengesängen verfallen,

Sprüchen von teutschem Charme,

auf Büchsen-Cola und Kiwis

auf selbstlose Hilfe warten,

Hilfe vom Kapital,

dem Golem mit steinernem Herzen,

während sie ganz im Stillen,

verdeckt hinter Schmonzes und Schmattes,

einem Perlschnurvorhang

blendender Worte und Reden,

glitzender Talmigeschenke,

schon ausgepowert werden.

 

Jetzt, da das Volk sich entledigt

 

borniert arrogant repressiver

Vormundschaft, vergreister

Kuratorenhand;

 

penetrant besorgter Betreuung

durch gängelnde Gouvernanten;

 

pointiert dezenter Obhut

verdeckter Seelenwächter,

Schutzengel, professioneller;

 

Androhung, präventiver,

Verordnung und Vollzug

von Maßnahmen zur Erziehung

starrsinnig unbelehrbarer

Individualisten

seitens der Obrigkeit,

beflissener Funktionäre,

systemgefüger Adepten

zweckdienlich formbaren Rechts;

 

gar staatlichen Alumnaten

dubios beschränkter Haftung;

 

Jetzt, da es alldem entronnen,

ohne Schirm in die Freiheit entlassen,

 

Jetzt, da es majorenn,

nicht nur dem Worte nach,

 

Jetzt, auf sich selbst gestellt

 

gebricht’s ihm an Selbstvertrauen,

weiß es nicht, was zu tun,

 

hat es auf einmal Angst,

verspätet und unbegründet,

vor seiner eig’nen Courage,

 

fehlt ihm, komplexbeladen

aus der Vergangenheit,

der Mut zu gebotener Tat,

auf eigen-ureigenem Weg

an der eigenen Zukunft zu bauen.

 

Jetzt, da das Volk seine Ketten

gesprengt, da das Volk souverän

 

vor der Möglichkeit steht,

barmherzig der Zukunft, den Kindern,

der Natur, der Welt gegenüber,

Träumen, bislang mißbrauchten

folgend, Keime zu säen,

die Gemeinsinn, die Liebe beflügeln,

eine Saat in den Boden zu bringen,

aus der Humanismus erwächst,

 

wählt es, kaum sich bedenkend,

verführt von der düsteren Pracht,

vom drügenden Widerschein

platten Phäakentums,

rücksichtsloser Genußsucht,

verführt von der Aureole

grenzenloser Freiheit

(Freiheit wovon? wofür?)

im angeblich besten aller

virtuellen Sozio-Systeme,

wählt es, so korrumpiert,

statt produktivem Suchen

nach geeigneter Alternative

in sachlicher Partnerschaft

(wobei nur allzu fraglich:

hätte man sie gewährt?)

bedingungslosen Anschluß,

verhüllendes Synonym

für schlichte Unterwerfung,

 

hoffend zu partizipieren

an Wohlstand und Libertät

 

nicht achtend die Kenntnis, woher

der Reichtum, der Überfluß,

die dünkelhafte Ansicht,

auserwählt, gestellt zu sein

über alles in der Welt,

 

verdrängend das Wissen um Hunger,

Krankheit, Siechtum und Tod,

Substrat dieser Prosperität,

dieser Selbstüberheblichkeit.

 

Jetzt, da das Volk sich freut,

über dem Berge zu sein,

befreit dem Tage lebt,

 

fehlt ihm der Blick für das,

ahnt eine Minderheit nur,

was morgen sich vor ihm türmt,

vor ihm, dem Volk, das gezeichnet

vom Kainsmal seiner Geschichte.

 

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1. April 2009 3 01 /04 /April /2009 09:52

Das Lungensanatorium war ein schneeweißes Haus, es stand am Meer, sehr nah am Meer, fast mit den Füßen in der Brandung, in einem Fischerort namens Wiek, und Möwen kreischten vor den Fenstern. Es hatte zwei Etagen, oben standen die Betten der Jungen, unten die der Mädchen. Die Schwestern hatten sich zum Empfang der Kinder im Flur aufgereiht, angetan mit blauen Kitteln, einem Häubchen auf dem Haar und einem Knüppel in der Hand, den Jo aber erst bemerkte, als eine der Schwestern damit wie prüfend auf ihre Handfläche schlug.

Der Raum, in den man Jo und die anderen Mädchen führte, war riesengroß. Jo begann die Betten zu zählen: mehr als fünfzig Betten. Sie eilte zu einem Bett am Fenster. Sofort kam eine Schwester angelaufen und zerrte sie von dem Bett herunter. „Die Belegung ist festgelegt! Am Fenster schlafen die großen Mädchen!"

Ihr Bett stand in der Mitte des Riesenraumes, weitab vom Fenster, hinter dem das Meer rauschte. Jo blickte sich um: nichts als Betten, keine Schränke mit Spielzeug, keine Tische, keine Stühle, nur Betten.

„Wo kommst du her?" Ein Mädchen war an ihr Bett getreten, es schien jünger als Jo zu sein. Es hatte ein fadenscheiniges Kleidchen an, und die Schuhe, ausgediente, aber tiefschwarz geputzte Schnürschuhe, wurden mit Bindfaden zusammengehalten. Jo musterte das Mädchen: Stupsnase, Sommersprossen, blonde Stoppelhaare, mager wie ein Wichtelmännchen, gescheite Augen. „Aus Berlin", sagte Jo. „Und du? Und wie heißt du?"

Das Mädchen war ihr sofort sympathisch, es war so zart, ganz anders als die Kinder aus der Kellerstraße. „Marie-Luise. Aus Köln", sagte das Mädchen. „Aber eigentlich aus Breslau. Wir sind geflüchtet. Aber meine Mama ist tot. Nur noch mein Bruder ist da. "

„Ich habe eine Mutter", sagte Jo, „aber ich wohne bei meiner Oma. Und ich habe auch eine Schwester, sie heißt Veronika. Aber sie ist noch ganz klein, und man kann noch nicht mit ihr spielen. Ich bin Jo. Bist du auch seekrank geworden?"

Marie-Luise schüttelte den Kopf. „Ein bisschen", sagte sie, als Jo sie zweifelnd ansah, „aber es kam nur Spucke raus." Ihr Gesicht wurde rot bis unter die Haarspitzen, wegen der Schwindelei.

„Und warum bist du geflüchtet?"

„Weil ... ich weiß nicht. Es war ganz kalt, meine Füße taten so weh. Und dann wurde geschossen, und dann war meine Mama tot, überall war Blut und alle Leute haben geschrien. Aber jetzt wohnen wir in Köln, bei meinem Onkel, im Luftschutzkeller. Manchmal haben wir gar nichts zu essen." Sie begann zu weinen.

Jo streichelte sie. „Heul doch nicht." Sie konnte sich fremdes Elend noch nicht wirklich erklären, sie wusste nur, hier war Kummer, und wer Kummer hatte, brauchte leise Worte, den durfte man nicht anschreien: „Du doofe Heulsuse!" Viel zu gut wusste sie, was Kummer war. Sie brauchte nur an Siggi zu denken, Siggi den Bescheuerten.

So lernten sich Jo und Marie-Luise kennen. Marie-Luise, die dann von allen Mariechen genannt wurde, schlief im Bett neben Jo.

Abends der Höhepunkt des Tages: das Abendessen. In dem großen Raum standen lange weißgescheuerte Tische, Holzbänke drumherum, und auf den Holzbänken saßen dicht an dicht Kinder mit hungrigen Augen.

Die Schwestern stellten große runde Teller auf die Tische, Berge mit Marmeladenstullen darauf. Marmeladenstullen, kaum jemand wusste, wie Marmelade schmeckte. Alle griffen in die Stullenberge hinein, die Schwestern brüllten: „Einer nach dem anderen!" Aber niemand scherte sich um das Gebrüll, nicht an diesem Abend, es war schöner als Weihnachten.

Dann das Waschen im Bad. Es gab eine richtige Dusche in der Ecke. Jo bestaunte sie wie das achte Weltwunder. Die größeren Mädchen erklärten, wie die Dusche funktionierte: Hahn aufdrehen, und oben käme dann das Wasser heraus. Jo probierte die Dusche aus. Mit einem Schrei fuhr sie zurück: Das Wasser war eiskalt! Begossen wie ein Pudel stand sie da.

Eine Schwester kam herein. Schadenfroh besah sie sich die durchnässte Jo. „Na, deine kalte Dusche hast du ja jetzt. Strafe genug." Ein bisschen unzufrieden schlug sie sich mit dem arbeitslosen Knüppel gegen die Schaftstiefel.

Und nach all dem Neuen dann die erste Nacht in dem wunderschönen, breiten Bett. Jo sprang mit einem Juchzer hinein und zog das Bettdeck über den Kopf. Mariechen das sehen und es ihr nachmachen war eines. Plötzlich sprangen alle Mädchen in ihre Betten und zogen sich die Bettdecken über die Köpfe. Schreiend kam eine Schwester herein. „Da hört sich doch alles auf! Das ist ja hier wie bei den Hottentotten!" Drohend schwang sie ihren Knüppel über dem Kopf. „Wer hat damit angefangen? Na, wird es bald? Unter euch ist ein Feigling, und alle müssen für ihn büßen, der ganze Schlafsaal. Morgen früh Essensentzug. Na, wird es bald? Wer hat als erster angefangen?"

Die Kinder, eingeschüchtert von dem Knüppel, lagen starr unter den Bettdecken. Jo meldete sich, niemand sollte sie Feigling nennen. „Ich", sagte sie kleinlaut. Die Schwester trat an ihr Bett. „Du? Wie heißt du?"

„Johanna Borkmann."

„Borkmann also." Es klang, als sagte sie: „Dachte ich es mir doch. Wenn eine Johanna Borkmann heißt, dann hat sie sowieso nichts als Unsinn im Kopf."

„Lass dir das eine Warnung sein", sagte sie. „Das nächste Mal setzt es was."

 

Das Meer rauschte, die Wellen schlugen an den Strand, und die Mädchen lagen in den Betten, manche weinten leise, weil sie das erste Mal in ihrem Leben allein waren, ohne die Mutter. Jo hörte ein neues Wort: Heimweh. Sie würde nicht weinen, nahm sie sich vor, und wenn sie die Großmutter noch so sehr vermisste. Bis auf das Schluchzen und den Wellenschlag vor dem Fenster war es mucksmäuschenstill im Schlafsaal.

„Wer kennt ein Abendlied?" Eines der großen Mädchen hatte gefragt. Alle schrien: „Ich, ich, ich!" „Also gut, jeder ist mal dran", sagte sie. „Ich fang an." Jo kannte kein Abendlied. Aber sie machte sich deshalb keine Sorgen. Bis sie drankäme, würde sie alle Abendlieder der Welt kennen.

Das Mädchen sang. „Weißt du, wieviel Sternlein stehen ..." Jo war begeistert. So ein schönes Abendlied hatte sie nie gehört, sie hörte gebannt zu. Die Stimme des Mädchens war rein, sie sang hoch und klar wie eine Sängerin aus dem Radio. Der Gesang und der Wellenschlag, alles machte sie müde, und als Mariechen ihr gute Nacht zuflüsterte, war sie schon eingeschlafen.

Am Morgen, die Novembersonne schien schon in den Schlafraum, hörte sie Mariechen weinen. „Mariechen!" Jo setzte sich auf Mariechens Bett. „Was hast du denn?"

Mariechen schlug das Bettdeck zurück. Da sah Jo es: auf dem Laken ein gelblicher nasser Fleck, Mariechen hatte ins Bett gemacht. „Au weia", sagte sie. Sie dachte an die Schwestern mit den Knüppeln.

Eine Schwester kam, besah sich das Unglück und riss Mariechen vom Bett herunter. „So ein Schwein! So eine Mistsau! Wir haben eine Bettnässerin! Einpinkeln, das fehlte noch!" Die Missetäterin stand barfuß und mit gesenktem Kopf neben dem Bett, gewärtig, einen Schlag mit dem Knüppel abzubekommen. Aber die Schwester hatte keinen Knüppel dabei, sie schlug ihr mit der Hand ins Gesicht. „Wie alt bist du denn? Sechs? Na, das hätte dir deine Mutter aber beibringen können! Wo bist du denn her?"

„Aus Köln", sagte Mariechen leise. Sie würgte an ihren Tränen.

„Woher? Lauter!"

„Aus Köln!" Jetzt schrie Mariechen.

„Schrei mich nicht so an, du Luder!" Die Schwester war empört. Soviel Frechheit war ihr noch nicht untergekommen. Ein paar andere Schwestern standen in der Tür, die Knüppel in den Händen, bereit, jeden Aufruhr im Schlafraum zu vereiteln.

Aber die Vorsicht war unnötig. Alle Mädchen standen wie eine Eins neben ihren Betten, erstarrt, aber nicht vor Kälte. Keines dachte an Aufruhr.

In den folgenden Wochen musste Mariechen jeden Morgen nach dem Frühstück zur Abreibung antreten: drei Schläge mit dem Knüppel auf den nackten Hintern. Jede Nacht war ihr Bett nass. Die Mädchen riefen: „Bettnässerin! Bettnässer stinken!" Mariechen sprach nur noch leise, fast flüsternd, mit weinerlicher Stimme. Jo war ihre Freundin geworden. „Ich beschütz dich", sagte sie. „Die andern werden schon sehen, was passiert, wenn sie dich ärgern." Mariechen zog die Nase hoch. Sie lächelte glücklich.

Jeden dritten Vormittag Untersuchung. Es war ein freundlicher Doktor. „Hast du Angst vor Spritzen?", fragte er Jo. Sie schüttelte tapfer den Kopf. „Und Lebertran?"

Jo wusste nicht, was Lebertran war. Sie lernte ihn aber kennen. Und verabscheuen. Jeden Morgen nach dem Frühstück anstellen zum Lebertranempfang, einen ganzen Becher voll, zu trinken unter Aufsicht einer Schwester, mittags und abends dasselbe. Ausreden, man habe Bauchschmerzen oder müsse brechen, waren verboten. Weigerte sich ein Mädchen, das ölige gelbe Zeug zu trinken, drohte die Schwester mit dem Knüppel oder schlug mit der Hand zu.

Jo hielt sich die Nase zu, schluckte ihren Lebertran in einem Zug herunter. Mittlerweile galt sie den Schwestern als Vorbild für die anderen. „Tapferes deutsches Mädchen", sagten sie. „Borkmann macht es richtig: Nase zugehalten und runter damit!"

Nach der Arztvisite einmal in der Woche Schreibstunde. Jo war nur drei Wochen lang zur Schule gegangen. Außer ihrem Namen konnte sie schon zwei Wörter schreiben: Mama und Mimi. Wie man ihren Namen schrieb, hatte ihr Siggi beigebracht: ein Haken, das war das Jott, eine Kuller, das war das O. Sie diktierte der Schwester: „Liebe Oma, lieber Opa, lieber Siggi, liebe Mutti, liebe Veronika, lieber Ingo, liebe Frau Krumnow! Mir geht es gut, es gibt Marmeladenstullen und Grütze. Die Schwestern hauen mit ihren Knüppeln. Das Meer ist schön. Ich habe noch keine Muschel für Oma und auch kein Heimweh. Eure ..." Ihren Namen krakelte Jo selbst darunter. Der Satz mit den Knüppeln fehlte auf der Karte, bemerkte sie später verwundert, als sie in den Papieren der Mutter kramte und schon lesen konnte.

Tagsüber führte man die Mädchen in einen Raum mit langen Schrankreihen an den Wänden, in denen sich Spielzeug befand. Selbstbedienung verboten. Die Schwestern teilten jedem Kind sein Spielzeug zu. Ein Mädchen bekam einen Teddy, dem die Augen fehlten, ein anderes ein paar Holzbausteine, das dritte eine Puppenküche ohne Töpfe. Die Schwestern saßen auf einer Bank an der Wand, wachsam die Augen auf die Kinder, den Knüppel auf dem Schoß. Sie unterhielten sich und lachten miteinander. Die Kinder flüsterten, lautes Sprechen war verboten.

Manchmal stand Jo morgens gleich nach dem Aufwachen, noch im Nachthemd, am Fenster und blickte auf das Meer hinaus. Sie sah dem Flug der Möwen zu. Eben noch segelte eine selbstvergessen in der Luft, im nächsten Moment stürzte sie sich ins Wasser. Und wie gleichmäßig die Wellen an den Strand schlugen, so als ob sie mit dem Rhythmus einer geheimen Uhr kämen: schwuppischwupp, schwuppischwupp, schwuppischwupp. Der letzte Schwupp war am lautesten, er klang zornig, so als ob die Wellen fühlten, dass ihr Leben dort am Strand zu Ende ging. Und wenn Jo den Kopf hob, sah sie Himmel, nichts als blauen oder grauen Himmel. Nirgends ein zerbombtes Hinterhaus, kein Seitenflügel, keine Plumpsklos wie zu Hause. Sie hätte nicht sagen können, was ihr daran gefiel, an diesem Himmel und den Möwen und den Wellen, sie wusste nur: Schön war es am Meer.

Der Strand lag vor dem Fenster, weiß, verlockend, menschenleer. Wie gern wäre Jo hinausgelaufen, hätte sich in den weißen Sand geworfen und vor unerklärlichem Glücksgefühl geschrien. Aber die Kinder hatten im Haus zu bleiben. Einmal rissen trotz der Bewachung ein paar Jungen aus. Sie tobten vor den Fenstern des Mädchenschlafraums herum. Lange währte ihre Freiheit nicht, eine ganze Schar Schwestern trieb sie ins Haus zurück. Minuten später hörten die Mädchen Schreie aus der oberen Etage. Die Jungen wurden bestraft wie sie: mit Knüppelhieben.

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23. März 2009 1 23 /03 /März /2009 09:37

Der Sommer ging vorüber, und mit sonnigen, nicht mehr allzu warmen Nachmittagen kündigte sich der Herbst an. Jo war froh, dass sie zur Schule durfte, aber auch traurig, denn da war ja noch die Kur. Sie wollte nicht zur Kur fahren, sie wollte in die Schule gehen! Es waren Tage, die sie am liebsten verschlafen hätte. Alles war anders geworden, ganz anders, als sie wollte.

Bei der Einschulung am 1. September machte niemand etwas groß her. Siggis alte Schulmappe, seine Schiefertafel und ein paar Griffel, das war alles, eine Schultüte gab es nicht. Großmutter aber hatte einen Kuchen gebacken, und Jo durfte sich so viele Kuchenstücke nehmen, wie sie verdrücken konnte. Sie gab aber schon nach dem dritten Stück auf. Es würgte sie, ihr Körper hatte sich schon zu sehr an magere Kost gewöhnt.

Jo war gerade drei Wochen in der Schule, als es mit der Kur klappte. Großmutter war vor Freude außer sich: „Du fährst an die Nordsee, Kind! Nordsee! Wo es die vielen Muscheln gibt, die rauschen. Wie das Meer rauschen sie. Wirst schon sehen! Und Wasser, überall nur Wasser. Und Zuckersand, ganz weiß. Ein halbes Jahr! Kind, hast du es schön."

Großmutter, Siggi, der den Koffer trug, und die Mutter mit Veronika brachten sie zur Bahn.

Siggi stürmte ins Abteil. „Belegt! Ein Fensterbett! Damit du rausgucken kannst, wenn du fährst. Mensch, du hast es wirklich prima. Wie die Prinzessin auf der Erbse."

Traurig war Jo nicht, als der Zug anfuhr und alle winkten und Großmutter sich die Tränen abwischte. Eher ein bisschen stiller als sonst. Alles war neu und so ganz anders als das, was sie kannte, alles war fremd.

*

Es war ein Lazarettzug, rechts und links Betten, drei Etagen hoch, in der Mitte ein schmaler Gang. Krankenschwestern liefen hin und her. Jo lag im Bett, und der Zug fuhr in die Nacht, erst langsam, dann immer schneller. Unter ihr ratterten die Räder, und auf einmal war ihr, als ob sie davonschwebe, höher, höher, immer höher, bis in den Himmel, und die weißen Wolken deckten sie zu.

Der Zug hielt. Ein Bahnhof. „Hamburg! Hamburg!" Die Krankenschwestern trieben die Kinder an. „Nehmt eure Koffer und stellt euch in Zweierreihen auf!"

Der Koffer war schwer, viel zu schwer für Jo. Es ging durch morgendliche Straßen, Kopfsteinpflaster, Gassen, kleine Häuser beiderseits, ein viel zu langer Weg. Die Kinder stöhnten, die Krankenschwestern schimpften, wenn einer zurückblieb. „Und Ruhe, wir schwatzen nicht! Die Leute schlafen noch!"

Und dann sahen sie es: das Meer.

Es war riesengroß, Wasser, nichts als Wasser, es war grünes Wasser, es schäumte, wenn es ans Ufer schlug. Und mitten in das Meer hinein führte ein Steg. Und wie das roch! Nach dem schwarzen Zeug, das am Ufer lag, nach Kieselsteinen, nach kleinen Muscheln, die man in die Tasche stecken konnte, nach dem Wasser, den schäumenden Wellen, es roch und roch.

Jo hielt das Gesicht in den Wind. Das Meer. Der Wind zerzauste ihr die Zöpfchen. Sie musste schreien, wenn sie mit den anderen Kindern sprechen wollte, aber es war schön, es war unbändig schön. Und draußen auf dem Meer, am Ende des Stegs, ein weißes Schiff. Mit dem sollten sie fahren, zu einer Insel, sie hieß Föhr. Was eine Insel war, wusste Jo nicht, aber schon dass man dorthin nur mit einem Schiff kam, war überwältigend. Föhr, du mein Traumland.

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