Die letzte Untersuchung beim Arzt. „Gratuliere", sagte er, „du bist wieder völlig gesund. Aber um den Lebertran, junges Fräulein, um den kommst du nicht herum. Wir geben dir eine Flasche mit." Er lachte gutmütig.
Es ging ans Kofferpacken. Die Schwestern halfen den kleineren Kindern, Jo war jetzt alt genug, um ohne Hilfe auszukommen. Alles zwitscherte und lachte: Es geht nach Hause!
Nur Jo lachte nicht. Sie stand am Fenster und sah ein letztes Mal auf das Meer hinaus.
Meer, Meer, dir ist es egal, wer an deinem Ufer weint. Deine Wellen werden wie eh und je in die Brandung schlagen, wie eh und je werden die Möwen kreischen. Nur ich, Jo, bin dann nicht mehr hier.
„Jo, komm schon, anstellen! Es geht los." Mariechen schien noch zarter geworden zu sein. Auch sie würde aus Jos Leben verschwinden. Jo gab ihr einen Kuss. „Falls wir auseinandergerissen werden. Du fährst nach Köln und ich nach Berlin. Ich schreib dir, sobald ich schreiben kann. Wirst du mir schreiben? Merk dir meine Adresse: Berlin, Kellerstraße 11."
Diesmal wurde Jo nicht seekrank. Die Rückfahrt kam ihr kürzer vor als die Hinfahrt, der Schaukelzauber war weg. Kaum auf dem Schiff, und schon kam Hamburg in Sicht. Der Zug fuhr ein. Die Kinder wurden eingeteilt, wie Jo es geahnt hatte: Die Berliner in einem Wagen, die westdeutschen Kinder in einem anderen. Unterwegs würde der Zug getrennt, sagten die Schwestern.
Mariechen weinte. Sie umarmte die Freundin. „Ich schreib dir, Ehrenwort!" Dann war sie in der Mädchengruppe untergetaucht.
Jo saß am Fenster. Sie war traurig. Alles, was sie sah, sah sie heute zum letzten Mal: Das Meer, Mariechen, das Schiff, wieder das Meer, den Zug. Warum? Die Landschaft flog vorüber, Felder, Wälder, zerstörte Städte. Die Dampflok prustete, sie hatte es heute eilig.
Es war schon dunkel, als der Zug Berlin erreichte. Alle schrien und lachten, sie hatten ihre Verwandten auf dem Bahnhof gesehen und winkten. Jo wartete, bis die Drängelei vorbei war, dann stieg sie ganz langsam aus. Sie sah sich um: Die Großmutter war nirgends zu entdecken.
Aber da, die Mutter! Und Onkel Fred war dabei, der andere Borkmann-Sohn, den sie kaum kannte.
Die Mutter stürzte auf sie zu, umarmte und küsste sie. „Mein Gott, was bist du groß geworden. Und dick! Sieh mal, wen ich mitgebracht habe. Eine schöne Überraschung."
Jo gab Onkel Fred die Hand und machte einen Knicks. „Guten Tag, Onkel Fred", sagte sie.
Onkel Fred lachte. Er lachte so sehr, dass ihm die Tränen kamen. Jo verstand nicht: „Warum lachst du?"
Onkel Fred lachte noch immer. „Aber Jo", auch die Mutter lachte, „das ist doch nicht ..."
Onkel Fred unterbrach sie: „Warte, sag nichts. Vielleicht kommt sie von selbst drauf, wer ich bin."
„Du bist nicht Onkel Fred? Du schwindelst. Klar, du bist Onkel Fred, ich weiß doch, wie der aussieht."
Onkel Fred stellte sich vor Jo hin. „Sieh mich mal genau an. Wer bin ich?"
„Onkel Fred."
„Nein, ich bin nicht Onkel Fred, ich bin ..." Die Mutter fiel ihm ins Wort: „Aber das ist doch, das ist doch, Jo – das ist der Pappi! Erkennst du ihn denn nicht? Du hast doch sein Foto gesehen, es steht auf dem Vertiko."
Jo wollte es nicht glauben. „Du bist nicht Onkel Fred? Du bist der Mann auf dem Foto, der mit dem Stahlhelm? Aber du siehst doch aus wie Onkel Fred. Wie kommt denn das, man kann euch ja verwechseln, seid ihr Zwillinge?"
„Zwillinge!" Onkel Fred lachte. „Du machst mir Spaß. Sag Pappi zu mir, ich bin doch nicht mein eigener Bruder. Ich bin dein Pappi."
„Der aus Russland? Und ich soll Pappi zu dir sagen?"
„Willst du mir keinen Kuss geben?" Der neue Pappi breitete die Arme aus.
„Nein." Jo sah misstrauisch zu ihm auf.
Die Mutter mischte sich ein. „Sei nicht bockig, gib dem Pappi einen Kuss. Mach schon. Wir müssen nach Hause."
„Und wo ist Oma? Warum ist sie nicht mitgekommen?"
Die Mutter schwieg. „Du gehst nicht mehr zu deiner Oma", sagte der neue Pappi. „Du wohnst jetzt bei uns. Wir sind eine Familie und Mutters Vater eine andere."
Nicht mehr zu Oma gehen! Zu ihrer Oma! Während der S-Bahn-Fahrt sah Jo wütend zu ihm hinüber. Er beachtete sie nicht, sondern sprach mit der Mutter. Dass er aber auch so aussah wie Onkel Fred! Wie die Zwillinge Wolfgang und Peter, die man nur unterscheiden konnte, wenn sie beieinander waren.
Das Haus Nummer elf schlief schon. Alles war wie immer, nichts hatte sich verändert. Es roch auch wie immer: nach Kohlengrus aus dem Keller, ein bisschen muffig, nach den Klos auf der Treppe. Sogar die Stelle im Treppenhaus, wo Jo ein Männchen in den Wandputz geritzt hatte, sah aus wie immer. Jo fuhr mit der Hand darüber hinweg: Guten Abend, Männeken.
„Darf ich bei Oma klingeln?", fragte sie.
„Oma schläft schon. Deine Sachen sind alle schon oben, bei uns in der Wohnung." Die Mutter schloss die Wohnungstür auf.
„Du schläfst in der Küche", sagte sie. „In der Stube ist kein Platz für dein Kinderbett."
„Aber ich bin doch schon viel zu groß! Da passe ich gar nicht mehr rein."
„Red nicht, sondern zieh dich aus. Morgen früh erzählst du, wie es in Wiek auf Föhr war.
Wir sind müde heute abend. Veronika schläft schon."
„Aber morgen früh darf ich zu Oma gehen?"
„Darüber reden wir noch", sagte die Mutter. „Aber dass der Pappi das nicht mitkriegt."
„Warum nicht?"
„Frag nicht. Es hat Krach gegeben. Dass du mir nicht noch mehr Ärger machst. Morgen früh, wenn der Pappi zur Arbeit geht, erzähl ich dir alles. Und jetzt gut Nacht."
Jo lag in ihrem alten Kinderbett. Es war wirklich schon zu klein geworden, sie musste die Beine anwinkeln. Sie dachte an all das Neue, das an diesem Tag auf sie eingestürmt war: Die Fahrt nach Berlin, Mariechen, die Schwestern, das Lachen der Kinder. Und heute morgen noch war sie an der Nordsee gewesen. Und - natürlich würde sie zu Oma gehen! Es hatte Krach gegeben. Warum? Jo kamen die Tränen, alles war verloren: die Nordsee, Mariechen, und jetzt auch noch Oma. Und den neuen Pappi? Den brauchte sie nicht, was wollte er hier?
Am nächsten Morgen, der neue Pappi war schon zur Arbeit gegangen, saß Jo mit der Mutter und Veronika beim Frühstück am Tisch in der Stube.
„Plötzlich stand er vor der Tür", sagte die Mutter. „Ich habe ihn kaum wiedererkannt. Er ist so dünn geworden. Ach ja. So war das, als er ..."
Der neue Pappi interessierte Jo nicht. „Warum hat es Krach gegeben?", fragte sie. „Du wolltest es mir heute morgen erzählen. Warum darf ich nicht mehr bei Oma sein?"
„Nicht so energisch, meine Tochter."
Jo starrte die Mutter trotzig an. „Ich gehe aber wieder zu Oma. Ich wollte ihr Muscheln mitbringen, aber wir durften nicht an den Strand. Ich will ihr guten Tag sagen. Ich versteh das nicht."
„Naja, der Krach ... also, ich weiß nicht, ob du das schon verstehst. Pappi war in Russland, in Gefangenschaft."
„Na und? Das weiß ich doch."
„Aber er – also wenn Krieg ist, wenn die Menschen sich totschießen, wenn also ... Nein, das verstehst du noch nicht."
„Ich weiß schon, was Krieg ist. Wenn Bomben fallen und wir in den Bunker rennen müssen."
„Aber Pappi war Soldat, und er wollte kein Soldat sein. Er musste auf Leute schießen, die er gar nicht erschießen wollte. Und da ist er hingegangen zu den fremden Soldaten, zu den Russen, und hat gesagt: Ich ergebe mich."
„Ach so. Dann wollte er nicht schießen?"
„Er wollte, dass der Krieg zu Ende geht. Verstehst du?"
„Aber das ist doch gut! Ich wollte auch, dass der Krieg zu Ende geht. Im Bunker war es so kalt. Und die schrecklichen Sirenen ..."
„Und dann musste ich zur Gestapo. Erst war er ja nur vermisst. Aber irgendwie, weiß der Himmel, ist rausgekommen, dass er Überläufer ist."
„Gestapo? Was ist das?"
„Kind, dir das zu erklären ... Sie haben eine Haussuchung gemacht, hier bei uns, vierundvierzig. Du warst damals noch ganz klein."
„Die Gestapo – das waren Soldaten?" Jo überlegte. Ja, da war etwas gewesen, ... Soldaten, ja, einmal, als sie noch ganz klein war, sie lag im Bett, es war Nacht, Geschrei, uniformierte Männer in der Wohnung, Mutti weinte, sie stand am Ofen, ganz in die Ecke gedrückt ...
Plötzlich tat ihr die Mutter leid. „Aber verhaftet haben sie uns nicht", sagte sie, und ihre Stimme war zärtlich geworden.
„Und dann musste ich hin, zur Gestapo. Aber ich hatte Glück. Der Gestapomann war einer aus meiner Klasse. Er hat den Fall vertuscht. Sie hätten uns alle ins KZ gebracht: mich, meinen Vater, meine Mutter, Siggi, alle. Dich auch."
„Aber warum darf ich deshalb nicht mehr zu Oma?"
„Herrgott, dein Opa, Jo! Ein oller Hartschädel, ein Holzklotz wie aus dem Buche! In den geht nichts mehr hinein! Verräter, hat er Pappi beschimpft. Bringst die ganze Familie ins KZ, hatte er damals gesagt, zu mir, seiner eigenen Tochter. Mein eigener Vater. Und zu meinem Mann, der gerade aus Russland kommt ..."
„Aber warum Verräter? Was soll er denn verraten haben? Und deshalb darf ich nicht mehr zu Oma? Und was ist das – ein KZ? Ein Kinderheim?"
„Frag nicht. Das wirst du später alles erfahren. Wenn du größer bist."
„Aber ich will zu Oma gehen!"
„Dann geh. Sie ist schließlich meine Mutter. Aber ich weiß von nichts."
Jo sprang vom Tisch auf. „Ich geh gleich. Sie wartet, dass ich klingle. Aber dass ich keine Muscheln mitgebracht habe ..."
Die Treppen herunterfliegen, klingeln, brrr, brrr, klingeln, klingeln – alles eins.
„Oma! Oma! Ich bin wieder da! Meine Oma!"
Großmutter riss die Enkelin an sich. Großmutter schluchzte, Jo schluchzte. Ihr Gesicht war tränennass, von ihren Tränen und den Tränen der Großmutter.
„Komm erst mal in die Stube ..." Großmutter wischte sich die Tränen mit der flachen Hand ab. „Ich altes Weib, hab am Wasser gebaut ... Komm, Nase putzen ... "
Omas Stube ... Jo schwebte hinein. Wieder zu Hause. Endlich.